Rückblick
Zur Geschichte hannoverscher Stiftungen
Der folgende Streifzug durch die stadtge schichtlichen Epochen stellt jeweils eine Stiftung näher in ihrem zeitgenössischen Kontext vor. Als Leitfrage dient dabei die Überlegung, in welchem Geist die Menschen in ihrer Zeit gestiftet haben.
Sage
Am weitesten zurück in die Stadtgeschichte führt die Sage von der Gründung des Hospitals St. Nikolai. Unser Gewährsmann ist der Chronikschreiber Johann Heinrich Redecker (1682–1764). Nach der Sage, so Redecker, ist das Hospital St. Nikolai die Stiftung eines im Jahr 1105 verstorbenen "aussätzigen Grafen". Die Erzählung spielt an dem Ort, wo heute noch die Ruine der Nikolaikirche steht. In ihren Anfängen war sie eine Kapelle für Leprakranke.
An dieser Chronistengeschichte für das St. Nikolai Stift ist leider fast kein einziges Wort wahr. Und dennoch macht die Geschichte einige Grundelemente des älteren Stiftungswesens deutlich: Eine Stiftung erfolgt in früheren Zeiten grundsätzlich "ad pias causas", zu frommen Zwecken; sie wird mit zinsbarem Kapital ausgestattet, denn angeblich war der "aussätzige Graf" in der Steinthor-Masch begütert; und das ganz Wichtige: Der Stifter erfährt geistlichen Lohn. In der vorliegenden Geschichte durch Bestattung in der Marktkirche – das Höchste, was einem frommen Christen widerfahren konnte. Völlig untypisch und ganz unglaubwürdig ist jedoch die Person des Grafen als Stifter für die mittelalterliche Stiftung in einer Landstadt wie Hannover. Das städtische Stiftungswesen entwickelt sich nicht auf der Basis des Kapitals eines begüterten Grafen, der das Hospital "mit einem Schlag" perfekt ausstattet. Typisch ist vielmehr das gemeinschaftliche Beitragen zu einem Projekt mit vielen kleinen, aber in der Masse wirksamen Anteilen der Bürger am Gesamtwerk. Ein derartiges Projekt war die älteste nachweisbare Stiftung in Hannover, das
Hospital St. Spiritus.
Geschichte einer Hospitalsgründung
Gründung und Entwicklung des Hospitals St. Spiritus (1256) erfolgten im Geiste mittelalterlicher Frömmigkeit und der sozialen Notwendigkeiten einer autonomen Landstadt. Im ersten Hannover lebten die Menschen in streng ständisch gegliederten Berufsverbänden (Zünften, in Hannover "Ämter" genannt). Stärkstes Amt war das der Kaufleute, gefolgt von den vier "Großen Ämtern", das waren die Bäcker, Schmiede, Schuhmacher und Knochenhauer. Die Stadt erhielt in dieser Zeit einen vollständigen Mauerring als Verteidigungsanlage. Im Innern maß sie 800 x 500 Meter. Um 1435 zählte man auf dieser Fläche 712 Häuser.
Seit 1256 gaben hannoversche Bürger Spenden für das Heilig-Geist-Spital. Dadurch sollte Fremden, Reisenden, Blinden und Lahmen eine Unterkunft geschaffen werden. Die Einnahmen kamen aus Stiftungen und Almosen. Ablässe regten die Stiftungsbereitschaft an. Ab 1323 wurde es üblich, verarmten Ratsherren und städtischen Amtsträgern das Wohnrecht im Spital zu geben, wo sie auch kostenlos verpflegt wurden. Seit Ende des 14. Jahrhunderts gibt es Belege dafür, dass sich auch gutsituierte Bürger in das Spital einkauften. Damit wurde das Spital immer mehr zum Altersheim.
Das "Spital" entwickelte sich zu einer Grundform des Stiftungswesens im Mittelalter. Das wirtschaftliche Aufblühen der Städte sowie die Zunahme des Geldverkehrs förderten die Entfaltung des Stiftungswesens erheblich. Insbesondere richteten sich Zuwendungen "ad pias causas" vermehrt darauf, durch Kapitalisierung des Vermögens die jeweiligen religiösen oder karitativen Zwecke nicht aus der Substanz, sondern aus den Erträgen und damit dauerhaft zu verfolgen.
Zu einer weiteren Hauptform des kapitalisierten "Seelteils" wurde dabei die Jahrtagsstiftung ("anniversarium"). Sie entwickelte sich als eine karitative Stiftung mit kultischen Elementen. Unter dem Zweck alljährlicher Armenspeisung wurde für den verstorbenen Stifter gebetet.
Reformation und Kloster
Mit der Reformation geriet das ältere Stiftungswesen in eine Krise. Die theologischen Einwände des Protestantismus insbesondere gegen die Kultusstiftungen, z. B. Heiligenverehrung, trafen sich mit dem Streben weltlicher Herrschaften. In den protestantischen Territorien, abgeschwächt aber auch in den katholischen, führte dies zu einer weitreichenden Verweltlichung des Stiftungswesens: Die Stiftungsaufsicht ging auf die Territorialstaaten über. Grundsätze einer "Stiftungspolizei" wurden entwickelt und territorialstaatliche Verwaltungseinrichtungen zur Stiftungsaufsicht aufgebaut.
Im Fürstentum Calenberg, dem welfischen Territorium, dem Hannover zugehörte, führte die Entwicklung seit 1542 über die Gründung des hannoverschen Klosterfonds zur sogenannten Klosterkammer (seit 1818) als Verwalterin des einstigen kirchlichen Stiftungsvermögens. Insbesondere die ehemaligen Klöster mit ihrem weitläufigen Landbesitz gehörten hierzu.
Auf kommunaler Ebene zog der Rat der Stadt die Aufsicht über die Stiftungen an sich. Ursprünglich kirchliches Vermögen wurde im Rahmen des städtischen Kämmereiwesens verwaltet. Viele kleine Stiftungen wurden im "Geistlichen Lehnsregister" zusammengefasst; aber auch ganze Klöster erhielten eine neue Zweckbestimmung. Der hannoversche Rat gelangte in den Besitz des ehemaligen Klosters, das im 13. Jahrhundert von den Franziskanern auf der Stadtmauer zur Leine hin errichtet worden war. Heute ist dort der Landtag zu finden.
Die erste größere Bürgerstiftung nach der Reformation geht zurück auf zwei zunächst getrennte Legate mit dem folglich etwas komplizierten Namen "Rats- und von Soden Kloster". Der Ausdruck "Kloster" hatte nun nicht mehr die kirchliche Bedeutung.
Die Schwestern Catarina († 1570) und Johanna († 1578) Romel bestimmten 1551, mit ihrem Kapital solle "vor alte kümmerliche Leuthe, in sonderheit vor arme elende Frauenspersonen" gesorgt werden.
Mit der Realisierung der Idee, für diese Stiftung das leer stehende Franziskanerkloster zu verwenden, war im Rat der Stadt eine Grundsatzentscheidung für mehrere Jahrhunderte getroffen worden: Fortan floss nicht nur das Romel’sche Kapital in dieses soziale Projekt, sondern jeder, der etwas Gutes tun wollte, konnte in diese Einrichtung im ehemaligen Franziskanerkloster investieren.
Gut 30 Jahre nach dem Romel’schen Legat ergab sich die Chance, das Projekt groß auszubauen: Der Kirchenmann Moritz von Sode (1527–1606), Sohn des wohlhabenden Kaufmannsgeschlechts in Hannover, verfügte, wie er sich eine von ihm begründete Einrichtung vorstellte. Die Stiftungsurkunde (1587) enthält klassische Bestimmungen:
- In das für die Stiftung auf dem ehemaligen Klostergelände errichtete Haus sollten "acht zehen halb Mans und halb Frauns Personen" (neun Männer, neun Frauen) aufgenommen werden
- Die Verwaltung erfolgte durch einen fünfköpfigen Stiftungsrat; Vorsteher und Patrone sollten sein: das älteste Mitglied der Familie von Sode, zwei Älterleute der
Kaufmanninnung, der Vorsteher des Bäckeramts und ein Ältermann der Gemeinde - Die laufenden Kosten sollten aus dem Aufkommen des Stiftungskapitals – 3.620 Reichstaler – gedeckt werden; der Rat sicherte der Einrichtung dauernde
Steuerfreiheit zu
An der Stelle des ehemaligen Franziskanerklosters entstand so neben der Romel’schen eine weitere Einrichtung für Alte, Kranke, Bedürftige und Arme. Beide wuchsen zum "Rats- und von Soden Kloster" zusammen. In der Folgezeit entwickelte sich die Einrichtung zu einem reinen Altersheim, seit 1895 untergebracht in dem eigens errichteten Bau mit dem Heilig Geist Stift auf der Bult. Das gewaltige Stiftungskapital ist leider in der Inflation 1923 vernichtet worden.
Vom Seelenheil des Stifters ist im nachreformatorischen Stiftergeist nicht mehr die Rede. Das irdische Werk des Christen zählte nach der neuen Lehre, wenn er einst "vor seinen Herrgott" tritt. Durch sein soziales Tun verhält sich der Stifter gottgefällig; und er ermöglicht den Armen, Kranken und in Not Geratenen, ein christliches Leben zu führen.
Neben den wohlhabenden Stiftungen, die in prächtigen Urkunden ihren Niederschlag gefunden haben, gab es die vielen bescheidenen. Eine, die für viele andere stehen kann, ist mit dem Testament (Donatio) von "fraw Lucke, Johan Gerberdinges nachgelassener widwe anno (etc.) 1583, 21. Martii ufgerichtet" im Stadtarchiv überliefert. Die Witwe benutzt die Form des Testaments für ihre "Kleinstiftung". Sie bedenkt darin an erster Stelle die armen Schüler. An zweiter Stelle kommt die Stadt Hannover als Begünstigte und erst dann die persönlichen Verwandten der Testamentarin.
Keine Frage: Die Prioritäten aus der Zeit des ersten Hannover haben sich im Vergleich zu unserer Zeit nicht nur umgedreht, sondern der Kanon der Begünstigten – Arme, Stadt, Verwandte – des 16. Jahrhunderts ist heute nahezu undenkbar geworden.
Aufklärung
Das zweite Hannover beginnt mit der Erhebung Hannovers zur Landeshauptstadt, der sogenannten Residenznahme (1636), und endet mit der Annexion des Königreiches durch Preußen (1866). Zweimal wandelt die Stadt in dieser Zeit durch einen staatlich initiierten Bauboom ihr Äußeres erheblich. Aus der Sicht eines hannoverschen Handwerkers war die Bildung des modernen Zentral- und Territorialstaates ambivalent. Einerseits war sie verbunden mit Einkommensverbesserungen durch Aufträge von Hof und Staat; andererseits spürte er die Folgen der Ausweitung des Marktes, d. h. die Bedrohung seiner Existenz durch Konkurrenz, denn die traditionelle Zunftorganisation sah ein offenes Konkurrieren um Aufträge nicht vor. Der Wirtschaftsstandort Hannover geriet in dieser Epoche in starke Abhängigkeit von Aufträgen des Staates und der Hofhaltung. Mit der Beamtenschaft am Hof, in der Regierung und der Verwaltung entstand eine neue kaufkräftige Bevölkerungsgruppe.
Die Wagenersche Stiftung, errichtet durch das Testament des Johann-Jobst Wagener "für Hülfsbedürftige der Neustadt Hannovers" am 17. August 1784, ist ein Beispiel für eine in der Doppelstadt an der Leine entstandene soziale Einrichtung. Nutznießer der Stiftung sollten ausschließlich Neustädter Bedürftige sein. Die wenig später durch Testamentseröffnung begründete Stiftung des Pastors Gerhard Philipp Scholvin († 1803) begünstigte die Waisenkinder der Altstadt. Beide Stiftungen arbeiten heute für einen erweiterten Personenkreis, der über die historischen Grenzen hinausgeht.
Im Geist der Aufklärung haben religiöse Stiftungszwecke weniger Platz. Die hergebrachten religiösen und karitativen frommen Zwecke ("piae causae") traten zurück hinter die Einsicht in das "gemeine Beste" ("utilitas publica"). Ein Ausschnitt aus der – modern gesprochen – "kommunalen Daseinsfürsorge", nämlich der Krankenhausausbau und seine Entstehung, erläutert den aufgeklärten Stiftergeist.
In den Jahren 1734 bis 1737 entstand das hannoversche Stadtlazarett. Bau und Eröffnung waren eine kleine Sensation, denn die stationäre Krankenbehandlung war bis dato nicht üblich. Die Stadt gab das Grundstück und errichtete das Gebäude, aber der Betrieb des Krankenhauses selbst war ausschließlich von der Bereitschaft der Bürger zum Spenden und
Vererben zugunsten des Lazaretts abhängig.
Ein Beispiel für einen Stifter, der das "gemeine Beste" im Auge hatte, ist Senator Schmidt: Seine testamentarische Bestimmung von 1805 zielte auf die Einrichtung einer weiteren Badeanlage im Lazarett. Diese Badeeinrichtung war mehr als nur ein Beitrag zur Verbesserung der Hygiene im Krankenhaus. Die Badeanlage im Lazarett wurde nämlich vom gehobenen Bürgertum als Freizeiteinrichtung genutzt. Als sie am 24. Juni 1798 ihre Pforten geöffnet hatte, war sie die "Neuentdeckung der Saison" und ein modischer Treffpunkt der Gesellschaft. Außerdem wurde ein Service geboten, den selbst gutbürgerliche Haushalte zu der Zeit nicht erreichen konnten.
In diesem Umfeld von Lazarettausstattung und -betrieb findet man nun auch neue Formen der Mitteleinwerbung: Wenn das Lazarett gehunfähige arme Kranke zu transportieren hatte, geschah dies in den ersten 80 Jahren seines Bestehens mit Lohndienern, die zum Transport angeheuert wurden. Nachdem der Krankentransport mit Lohndienern als ungenügend wahrgenommen wurde, zog 1818 eine revolutionäre Neuerung ein. Der Lazarettarzt Dr. Holscher hatte die Idee zur Anschaffung einer "Porte-Chaise" für den Krankentransport. Er selbst entwarf die "Tragemaschine". Das Krankenhaus brauchte nun 25 Reichstaler, die der Hofsattler Leo für die Konstruktion verlangte.
Die Stadt sagte, wir zahlen nicht für den Unterhalt des Lazaretts. Dr. Holscher und die Ärzte hatten also neudeutsch "kein Budget". Die Finanzierung dieser grundlegenden Neuerung erfolgte schließlich aus dem Überschuss eines Wohltätigkeitskonzerts.
"Wohltätigkeitskonzerte" gehörten zu den typischen Veranstaltungsformen für milde Zwecke im 19. Jahrhundert, das auch sonst als Gründerepoche des modernen Stiftungswesens
charakterisiert werden kann. Stadtgeschichtlich ist dies nicht mehr das zweite Hannover, das Hannover der kurfürstlichen und königlichen Residenzstadt, sondern die preußische
Provinzhauptstadt.
Der neue Stiftergeist
Das dritte Hannover ist das der Urbanisierung und Industrialisierung, der Großstadtentwicklung, des Aufstiegs und auch des Falls des finanzkräftigen Bürgertums und das Hannover der Kultur und Wissenschaft. Das Politechnikum wurde zur Hochschule ausgebaut. Zahlreiche Bildungseinrichtungen wuchsen mit der Stadt, die 1824 gut 20.000 Einwohner hatte, im Jahr 1873 die 100.000er Marke übersprang und nach der Vereinigung mit der Nachbarstadt Linden 1920 schon mehr als 400.000 Einwohner/-innen zählte.
Für den Stiftungsgedanken ist nach dem weitgehenden Verlust der sakralen und metaphysischen Bezüge im 19. Jahrhundert eine Erneuerung auf säkularer Grundlage zu beobachten. Mehrere geistige Strömungen wirkten zusammen:
- Das Erziehungsideal der Aufklärung wirkte produktiv in den Kreis der Stifter: "Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen" (Kant) lautete das Leitmotiv gegen Unmündigkeit, Unwissenheit und geistige Abhängigkeit
- Anschauungen des Deutschen Idealismus über den Eigenwert von Kunst entfalteten ihre Wirkung
- Und das humanistische Bildungsideal motivierte nicht nur Schulpädagogen zu Reformprojekten
Gerade das 19. Jahrhundert brachte bedeutende Stiftungen mit sozialem Stiftungszweck hervor. Sie knüpften an die Tradition des christlichen Stiftungswesens an und bauten es vielfach in Kooperation mit staatlichen und kommunalen Stellen aus.
Zu Beginn des Jahrhunderts wird mit dem bisher unbekannten Typus der "Stiftung mit kultureller Zweckwidmung" Neuland betreten. August Kestner (1777–1853) und Hermann Kestner (1810–1890) sind Repräsentanten dieser Entwicklung in Hannover. Das 1889 eingeweihte Kestner-Museum geht mit seinen Kernbeständen auf das Testament von August Kestner aus dem Jahr 1851 zurück. Hermann Kestner, Erbe der kulturellen Schätze seines Onkels August, sollte der nominelle Stifter des Museums werden, indem er seinen gesamten Kunstbesitz der Stadt schenkte. Die Stadt musste lediglich die Auflage erfüllen, ein Museum zu errichten. Und für diesen Bau stiftete Hermann Kestner noch 100.000 RM extra (1884).
Die geistig-moralischen Werte, die das Testament von August Kestner für diese Kulturstiftung nannte, sind fest in der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert verankert. Sie
erfolgte im Dienst der "Vaterstadt" und der "Familie" des Stifters, und er widmete sie im höheren Sinne als "Kunstschätze für die Deutsche Nation".
Einen vergleichbaren Wertekanon kannte auch der Bankier Moritz Alexander Simon (1837–1905), der die dem Andenken seiner Eltern gewidmete "Alexander und Fanny Simon’sche
Stiftung" ins Leben rief. Simon vermachte (Testament 1902) einen Teil seines Vermögens der Förderung der 1893 von ihm begründeten "Israelitischen Erziehungsanstalt" (seit 1919 Gartenbauschule) in Ahlem. Dort sollten jüdische Jungen und Mädchen den Volksschulabschluss erwerben und zur Hand- und Fabrikarbeit, zu Handwerk, Landwirtschaft, Garten-und Obstbau angelernt werden. "Nicht durch Almosen, sondern durch Erziehung zur Arbeit kann unseren armen Glaubensgenossen geholfen werden"“, lautete Simons Wahlspruch, der noch auf seinem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof an der Strangriede zu lesen ist. Für ihn waren vor allem die Grundwerte leitend, seinen Glaubensgenossen und dem Vaterland zu helfen.
Die deutsche Nation, die Vaterstadt, die Glaubensgenossen, die Familie, die Kunst, die Bildung – dieser von den Kestners und dem Bankier Simon angesprochene Wertekanon kann
im Zeitalter des Euro, der Regionsbildung und gleichgeschlechtlicher Partnerschaften nicht "eins zu eins" aktualisiert werden. Die Werte haben heute andere Bezeichnungen oder hinter ähnlichen Ausdrücken stehen andere Vorstellungen. Historisch scheint dem neuen Typus der "Stiftung mit kultureller Zweckwidmung" jedenfalls auch ein neuer Stiftertyp zu folgen.
Der Stifter des 19. Jahrhunderts ordnet seine Stiftung in einen Gesamtzusammenhang ein, den Kontext seiner Werte, sein Menschenbild oder seine sozialen Vorstellungen. Insofern hat sich damals ein moderner Zug des Stiftungswesens entwickelt.
Ausblick
Die "Wilhelminische Zeit"“ war die Blütezeit für die Ausbreitung des Stiftungsgedankens im wohlhabenden Bürgertum, dann muss man die Weimarer Republik als ihren Totengräber bezeichnen. Die Inflation 1923 vernichtete zahlreiche Stiftungsvermögen restlos, wenn das Stiftungskapital ohne Sachwert eingetragen war. Riesige Vermögen Jahres 1923 zur Wertlosigkeit dahin. Zurück blieb ein tief sitzendes Misstrauen in breiten Bevölkerungskreisen gegen jede Art von geldlicher Wertschöpfung.
Das dritte Hannover endete in den Trümmern des Zweiten Weltkrieges, nachdem Brandstifter in Deutschland an die Macht gekommen waren. Der nationalsozialistische Staat zerstörte die politische, wirtschaftliche und kulturelle Vielfalt. Die Klosterkammer etwa konnte als "Staatliche Kulturfondsverwaltung" kaum noch ihre Unabhängigkeit wahren. Der ganze Zweig der Stiftungen jüdischen Ursprungs, in Hannover reich entwickelt, wurde vernichtet. Rassismus und staatliche Plünderung haben diesen Teil der Stiftungskultur bis Kriegsbeginn nahezu restlos zerstört. 1941 wurden die jüdischen Stiftungen "aufgehoben".
In den frühen Jahren der Bundesrepublik war die Erinnerung an die traumatischen Erfahrungen während der Inflation und der Weltwirtschaftskrise und schließlich die Währungsreform noch lebhaft. Das Veltmann’sche Stipendium aus dem Jahr 1642, um ein letztes Beispiel anzuführen, hatte nahezu alle Krisen früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte überstanden, die Währungsreform 1948 überlebte es jedoch nicht. Es galt als"„Altgeldguthaben einer kommunalen Körperschaft" und wurde deshalb nicht umgewertet.
Die Bereitschaft zu stiften blieb wegen solcher Erfahrungen für lange Zeit gemindert. Damals begann das vierte, das heutige Hannover. Inzwischen ist der Wiederaufbau der Stadt
längst abgeschlossen. Die Schäden des Krieges im Straßenbild sehen heute nur noch Spezialisten. Für die Schäden, die diese Zeit in der Stiftungskultur angerichtet hat, reicht es nicht, Häuser wiederaufzubauen und Straßen zu planieren. Wirtschaftlicher Niedergang, Inflation und totalitäre Angriffe auf die Zivilgesellschaft sind Todfeinde einer lebendigen Stiftungskultur. Prosperität, kulturelle Blüte, entwickelte Bildung und historische Informiertheit sind ihre Ziehväter und Ammen.
Die geistigen Bezugsgrößen der Stifter wechselten in den Jahrhunderten: Im Mittelalter (im ersten Hannover) fundierte man für das Heil der Seele, im Zeitalter der Aufklärung (im
zweiten Hannover) für das "gemeine Beste" und die Stifter im 19. und 20. Jahrhundert (im dritten Hannover) orientierten sich an Idealen der Bildung, der Kunst und freiheitlicher Menschenbilder.
In der Entwicklung des Stiftungswesens auf lokaler Ebene liegt so der seltene Fall vor, dass die Betrachtung der Historie zu einer schlichten Einsicht führt: Stifter waren und sind jeweils in ihrer Zeit konkrete Träumer oder realistische Visionäre.
Dr. Karljosef Kreter
Projekt für Erinnerungskultur