"Jetzt weiß ich, dass unsere Geschichte weiterlebt, wenn wir bald nicht mehr sind", sagt Henny Simon. Bei ihrem ersten Besuch der neuen Gedenkstätte bleibt die 89-Jährige gleich vor dem ersten Bild stehen. "Das ist doch Putti", sagt sie lächelnd. Das Schwarz-Weiß-Bild zeigt ihre Jugendfreundin in einem Büro der Gartenbauschule. Als Sekretärin des Direktors hatte diese dort gearbeitet, bevor sie und Henny Simon in Konzentrationslager deportiert wurden. Gemeinsam haben beide die Hölle überlebt, Direktor Leo Rosenblatt und viele andere, die in der Ausstellung zu sehen sind, wurden ermordet. Für Zeitzeuginnen wie Henny Simon ist der Rundgang durch die Gedenkstätte eine Reise zurück in die schlimmste Zeit ihres Lebens.
Das nächste Bild an der Wand zeigt die brennende Synagoge in Hannover. In einem Zeitzeugen-Interview, das gleich darunter an einer Videostation zu sehen ist, erinnert sich Henny Simon an den 9. November 1938. Am Morgen nach der Reichspogromnacht war sie auf dem Weg zur Schule, als ihr ein SS-Mann den Weg versperrte. Über ihm sah sie den schwarzen Rauch der brennenden Synagoge am Himmel aufsteigen. Das war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie wirkliche Angst hatte, erinnert sie sich später.
Henny Rosenbaum wurde 1925 in Vahrenwald geboren. Ihre Eltern hatten dort einen Malerbetrieb und eine Wohnung in der Spittastraße. Bis Mitte der 1930er Jahre ging sie unter anderem auf die Bürgerschule in der Alemannstraße und in der Freizeit in den Turnverein.
Am 15. Dezember 1941 war die Jüdin Henny Simon unter den 1001 Menschen, die aus Hannover in dem ersten Transport in das Konzentrationslager in Riga deportiert wurden. Nur 69 von ihnen überlebten den Holocaust. Im April 1944 wurde ihre Mutter von den Nazis in Riga ermordet. Nach ihrer Befreiung heiratete sie und zog mit ihrem Mann Abraham in die USA, wo beide eine Farm bewirtschafteten. Henny Simon zog zwei Kinder groß und hat heute fünf Enkelkinder und einen Urenkel. Das Grauen konnte sie nie vergessen. „Manchmal konnten mein Mann und ich den Anblick unserer Hühner nicht ertragen, wenn die geschlachtet wurden. Ihr Schicksal hat uns dann an das eigene erinnert“, erzählt sie. Den Besuch ihrer Heimatstadt kann sie heute wieder ertragen. Zwei ihrer Enkel unterstützen die rüstige Dame auf ihrer Reise.
Nach dem Krieg redete sie nicht einmal mit ihren Kinder darüber, was sie in den Arbeits- und Vernichtungslagern erlebt hatte. "Mein Herz friert, wenn ich Deutsch höre", erzählte sie noch in den 1990er Jahren einem Journalisten. Heute hat sie es sich zur Lebensaufgabe gemacht, vor dem Menschenhass, den sie selber in unvorstellbarem Ausmaß erlebt hat, zu warnen. Als Zeitzeugin hält sie regelmäßig Vorträge vor Schüler- und Studentengruppen. "Wir müssen unsere Geschichten erzählen, solange wir noch leben“, sagt sie energisch. Ihre Vortragsunterlagen hat sie mit nach Hannover gebracht. Im Haus der Region erzählte sie in der Eröffnungswoche der Gedenkstätte vor Schulklassen ihre Geschichte.
Ihre Lebenserinnerungen hat sie in einem Buch festgehalten. Ihre Aufzeichnungen "Mein Herz friert, wenn ich Deutsch höre..." sind in der Schriftenreihe der Gedenkstätte Ahlem als vierter Band erschienen.
(Text von Mario Moers)