Gebäuderundgang

Die Zentralhalle

Blick in die Zentralhalle

Wer sein Aha-Erlebnis noch nicht hatte, der bekommt es jetzt. Niemand, der das auch schon eindrucksvolle Vestibül des Rathauses mit den steinernen Atlanten passiert hat, kann sich der kolossalen Wirkung dieses gewaltigen Raumes entziehen. 

Die drei Mietshäuser hohe Zentralhalle übertrifft alles, was in Rathausbauten des wilhelminischen Kaiserreichs je geschaffen worden ist. Die gesamte Raumwirkung ist auf Größe abgestellt. Die Zentral- oder auch Kuppelhalle vereinigt in ihren Gestaltungselementen zahlreiche Bezüge zur europäischen und deutschen Geschichte, die bis in die Antike zurückreichen.

Zunächst die Abmessungen: Die Halle ist 30 Meter lang, 21 Meter breit und exakt 30,35 Meter hoch. Sie wird in allen drei Geschossen von Umgängen umgeben. 24 ionische Säulen aus belgischem Marmor flankieren die Emporen. Ihr Rosa hebt sich in starkem Kontrast vom vorherrschenden hellen Kalkstein der Wände und Pfeiler ab. Von den Emporen wollten sich die Honoratioren mit hohen Gästen ihren Untertanen zeigen.

Blick nach oben.

Vier gewaltige Eckpfeiler tragen die Gurtbögen und das Sterngewölbe der Kuppel. Deren Schlussstein umschweben als Symbol der ewigen Wiederkehr vier weibliche Relieffiguren, Allegorien auf Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Von der Decke hängt ein prächtiger  achteckiger Ringleuchter. Er stammt aus der Bauzeit, ist aber seitdem mehrfach modernisiert worden, zuletzt bei der Rathaus-Restaurierung 1999. Seitdem strahlt er wieder in hellem Glanz.

Die riesigen Rundbogenfenster orientieren sich an antiken Vorbildern aus der römischen Thermenarchitektur  und stellen damit symbolisch die Verbindung zum römischen Reich dar, als dessen Nachfolger sich das erste deutsche Kaiserreich gesehen hatte. Die Fenster   sollten ursprünglich farbig verglast werden, was die mystische Wirkung des Kuppelraumes noch gesteigert hätte. Entwürfe dazu lagen vor. Doch zu ihrer Ausführung ist es nie gekommen. In den 90er Jahren wurde die trübe Verglasung durch eine klarere ersetzt, so dass seitdem helleres Tageslicht in die bei dieser Gelegenheit auch gründlich gereinigte Kuppel dringt.

Römische Thermenarchitektur und ionische Säulen sind nicht die einzigen Rückgriffe auf eine weit zurückliegende und geschichtlich verklärte Vergangenheit: Der Bauhistoriker Klaus Dieckmann sieht die Zentralhalle in ihrer Gesamtwirkung als bewussten Rekurs auf die  Pfalzkapelle Karls des Großen in Aachen. Dieser erste große Steinbau seit der Römerzeit nördlich der Alpen (fertig 805) war im neuen deutschen Kaiserreich unter großer Anteilnahme Wilhelms des II. aufwändig restauriert worden. Nicht in ihren architektonischen Details, aber in ihren Grundelementen (Zentralbau als Oktagon, hohe Kuppel, Dreigeschossigkeit mit offenen Emporen im Hauptgeschoss) nimmt die Zentralhalle des Rathauses Bezug auf den Traditionsbau des alten Karlsreiches. Der neu erstandene deutsche Nationalstaat wird damit direkt in die Tradition des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ gestellt.

Bürgertum und Nation

In einer solchen Umgebung ist auch die weitere Ausschmückung nicht zufälliges Beiwerk und bloßes Dekor. Bürgerliche Tugenden und nationale Größe verschmelzen in der Zentralhalle konsequent zu einer programmatischen Einheit.

Germane

Vier vor die Längswände gestellte Kolossalpilaster tragen auf korinthischen Kapitellen in Höhe der Thermenfenster vier Statuen als Repräsentanten vergangener Jahrhunderte: Auf der Ostseite (vom Eingang aus gesehen links)  sind dargestellt ein Germane mit Jagdtrophäen und ein kriegerischer Kaufmann des Mittelalters, auf der Westseite ein Landsknecht aus dem Dreißigjährigen Krieg und ein Gelehrter des 19. Jahrhunderts mit den Gesichtszügen des Keilschrift-Entzifferers und hannoverschen Ehrenbürgers Georg Friedrich Grotefend.

Am Übergang der Eckpfeiler zu den Gurtbögen der Kuppel halten Putten vier Kartuschen mit Reliefköpfen für die Stadtgeschichte bedeutender Persönlichkeiten. Portraitiert sind (wieder beginnend in der Nordostecke links vom Eingang) der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz, der Arzt Johann Georg Zimmermann, der Theologe und Reformator Antonius Corvinus sowie der Jurist Adolf Wilhelm Leonhardt. Ein Vierklang also von Philosphie, Medizin, Kirche und Juristerei.

Von der Nordwand blickt eine Büste des Reichsgründers Otto von Bismarck, von der Südwand über der Freitreppe der Kopf Martin Luthers.

Wer mag, kann die von unten schwer erkennbaren lateinischen Inschriften hier mit deutscher Übersetzung nachlesen:

Bei Luther: „CARITAS EST SOL OMNIUM OPERUM“. (Nächstenliebe ist die Sonne allen Menschenwerks).

Bei Bismarck: „PATIAE INSERVIENDO CONSUMOR“ (Im Dienst für das Vaterland reibe ich mich auf).

An der Ostseite unter der Krone des ersten deutschen Kaiserreichs: „MAJORUM VIRTUS NEPOTUM GLORIA“ (Der Vorfahren Stärke ist der Nachkommen Ruhm).

Im Westen unter der Krone des neuen Kaiserreichs: FIDE PARTA FIDE AUGENDA“ (Redlich Erworbenes möge sich redlich vermehren).

Dass sich Wohlstand durch körperliche Arbeit vermehrt, dass ein neues Zeitalter durch Technik und Industrialisierung hereingebrochen ist, findet im Bildprogramm nur am äußersten Rande und höchst beiläufig seinen Niederschlag. In Säulenkapitellen an den Längsseiten der Halle hantieren doch tatsächlich Putten mit einer Fotokamera und mit einem Theodoliten.

Der Architektenwechsel

Als Gustav Halmhuber 1910 von Hermann Eggert die Verantwortung für die Ausgestaltung der Rathaus-Innenräume übernahm, war die Kuppelhalle nach den Plänen von Hermann Eggert im Rohbau weitgehend fertiggestellt. Halmhuber musste sich auf Korrekturen beschränken. Er ließ Nischen wieder schließen, die sein Vorgänger an den Wänden der Hauptpfeiler für weitere Statuen vorgesehen hatte. Sockel im Geländer der beiden Wendeltreppenhäuser an den nördlichen Ecken der Zentralhalle schmückte Halmhuber statt mit Figuren mit steinernen Blumenvasen. Die Grundkonzeption dieser beiden Treppen mit ihren kunstvollen transparenten Bekrönungen und kunstvollen Kapitellen ließ er jedoch unangetastet. Verglaste Kuppeln mit floralen Jugendstilmotiven aus Blattwerk (noch nach Entwürfen Eggerts) bildeten den oberen Abschluss und ließen Tageslicht in die beiden Treppenrondelle fallen. Im Krieg sind die Glaskuppeln zerstört und danach durch Betonabdeckungen verschlossen worden. Die Firma Glasfischer   spendete der Stadt anlässlich der Expo 2000 nach den alten Entwürfen neue Kuppeln zunächst für die nördlichen, später auch für die beiden südlichen Wendeltreppen. Seitdem fällt wieder wie zur Bauzeit natürliches Licht in diese Treppenanlagen, deren Vorbilder wie so viele Ausstattungsdetails im Rathaus in Schlossbauten der italienischen Renaissance zu suchen sind.

Im Zentrum die große Treppe

Wendeltreppe

Die südlichen Wendeltreppen gehen in ihrer realisierten Form auf den Wechsel von Hermann Eggert zu Gustav Halmhuber 1910 zurück. Sie schließen an die mächtige Freitreppe an, die der neue Rathaus-Architekt direkt auf die ehemaligen Festsäle (heute Ratssaal und Sitzungssäle)im ersten Obergeschoss zuführte. Eggert hatte eine Treppenanlage vorgesehen, die sich auf einem Zwischenpodest in zwei Arme teilen sollte. Halmhuber, darin einig mit Tramm und der städtischen Rathaus-Baukommission, entschloss sich dagegen zur ganz großen Geste. Seine Treppe schwingt sich über einen eingefügten Absatz nach der 14. Stufe geradewegs auf in die Belle Etage. Wohl am konsequentesten sind bei ihrer Gestaltung Stilelemente des Jugendstils zum Tragen gekommen. Bacchus-Szenen und ornamentale Girlanden schmücken die Treppenwangen. Dionysisches Gefolge am Unterlauf weist auf die Freuden hin, die ein festlich gekleidetes Publikum nach bewältigtem Aufstieg oben in den Festsälen erwarten sollte. Am Kopf räkeln sich Kindergruppen mit Füllhörnern und Früchten auf kantigen Sockeln, alles ausgeführt in dunkelgrauem Wallenfelser Marmor. Die Ähnlichkeit in Material und Formensprache zur großen Treppe im kurz zuvor fertiggestellten Leipziger Rathaus kommt nicht von ungefähr. Die Baukommission aus Hannover hatte die sächsische Messestadt im Juli 1909 auf einer Rundreise besucht.

Nachteil der Halmhuberschen Treppenlösung war, dass der von Eggert vorgesehene direkte Durchgang von der Kuppelhalle zum rückwärtigen Rathaus-Foyer versperrt wurde. Deshalb ist auch der heutige Gartensaal nur über die seitlichen Umgänge im Erdgeschoss zu erreichen.

Historisch hat die monumentale Freitreppe ihre Vorbilder in Kommunalpalästen großer oberitalienischer Städte. Experten verweisen vor allem auf die Prunktreppe im Innenhof des Dogenpalastes in Venedig mit überlebensgroßen Standbildern von Mars und Neptun – die „Scala dei Giganti“.

Die verschwundenen  Kaiser

Der Vergleich mit der venezianischen „Treppe der Giganten“ ist heute nicht mehr leicht nachzuvollziehen. Scheint es  doch, als sei die Freitreppe in der Rathaus-Zentralhalle statt figürlichem Pathos eher diesseitigen Genüssen gewidmet worden.

War aber nicht so: Zwei leere Sockel zu beiden Seiten des oberen Zwischenpodests sind Spuren der Geschichte. Auf ihnen standen die „Giganten“, drei Meter hohe Standbilder der Kaiser Wilhelm I. und Wilhelm II., in Bronze ausgeführt 1912 von einem Berliner Bildhauer. Dessen Entwürfe hatten zur großen Erleichterung der Baukommission Gnade vor den Augen des um sein Abbild stets besorgten Monarchen gefunden. Die überlebensgroßen Hohenzollern beherrschten  den Raum ganz im Sinne des nationalliberal gesinnten Stadtdirektors Tramm, während doch der welfisch-preußische Grundkonflikt im übrigen Schmuckprogramm der Zentralhalle mit Ausnahme der Bismarck-Büste vorsichtig umschifft worden war.

Finanziert hatten die Statuen  Kommerzienrat Siegmund Seligmann, Direktor der Continental-Gummiwerke, und der Fabrikant und ehrenamtliche Senator August Werner. Es gehört zu den tragischen Verstrickungen deutscher Geschichte, dass Seligmann, Angehöriger der jüdischen Oberschicht in Hannover, mit der Stiftung der Figur Wilhelms des II. seine patriotische Gesinnung unterstreichen und das Bekenntnis des Judentums zum deutschen Nationalstaat unterstreichen wollte.

Die Kaiser-Statuen sind dann auf ganz andere Weise zum Sinnbild der wechselvollen deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert geworden. Nach dem Ende des Kaiserreichs wurden sie 1922 auf Beschluss der anfangs noch sozialdemokratischen Ratsmehrheit entfernt. Obwohl zunächst nur Wilhelm II. fallen sollte („der Schlächter von 1914“), musste „aus Symmetriegründen“ auch Wilhelm I. von seinem Sockel weichen.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 kehrten die beiden Kaiser (auch der von einem jüdischen Stifter  bezahlte Wilhelm II.) an ihre Plätze zurück, allerdings nur vorübergehend. Im Zweiten Weltkrieg sind sie für Hitlers Rüstungsproduktion abtransportiert und „für den Endsieg“ eingeschmolzen worden.

Verschwunden aus der Zentralhalle ist auch eine Büste von Heinrich Tramm. Sie war 1932 nach seinem Tod auf einem schlichten Marmorpostament vor dem nordöstlichen Hauptpfeiler aufgestellt worden. Auf Fotos von 1933 ist das Denkmal noch zu erkennen. 1939 jedoch ist es weg. Der Kopf soll von zwei Nationalsozialisten vom Sockel geschlagen worden sein. Die Büste kam zur Reparatur in die Werkstatt seines Schöpfers Hermann Scheuernstuhl, wurde aber von den neuen Herren nicht wieder zurück gefordert. Die Witwe des Bildhauers schenkte der Stadt die Büste später zurück. Anderen Quellen zu Folge soll es sich sogar um einen kompletten Nachguss handeln. Im Kaminzimmer neben dem Hodlersaal fand Tramm einen neuen Platz.

Zeitläufte

Die Zentralhalle ist ein Schauplatz politischer und festlicher Inszenierungen gewesen, seit Wilhelm II. sie anlässlich der Rathaus-Einweihung 1913 durchschritten hat.

1916 herrschte großer Aufruhr, als aufgebrachte Hausfrauen lärmend durch Halle und Gänge zogen: Protest gegen die enormen Schwierigkeiten bei der schlecht organisierten Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln im Ersten Weltkrieg.

 1925 war die Freitreppe festlich geschmückt, als der konservative Oberbürgermeister Arthur Menge am 15. August  feierlich in sein Amt eingeführt wurde.

 1932 wurde der Leichnam Heinrich Tramms auf der mit Kränzen und Lorbeerbäumen übersäten Freitreppe aufgebahrt.

 1933 ließen sich die neuen Bürgervorsteher in der Zentralhalle unter der Hakenkreuzflagge ins Amt einführen.

 1939 der Anfang vom Ende: Bei Kriegsbeginn wurden die ersten Lebensmittelkarten in der Zentralhalle an die Hannoveraner ausgegeben.

 1943, nach Zerstörung der Markthalle, wurden unter der Kuppel als Ersatz Marktstände aufgeschlagen.

1946, am 23. August eröffnete der britische General Sir Brian Robertson mit einer Ansprache auf der Freitreppe die erste Sitzung des Hannoverschen Landtages. Ernannter Ministerpräsident wurde der „rote Welfe“ Hinrich Wilhelm Kopf (SPD). Danach Gründung des landes Niedersachsen. Der Landtag trat noch 13-mal im Rathaus zusammen. Nach den Wahlen vom 20. April 1947 zog der Landtag in den Bonatzsaal der Stadthalle um.

1948 sprach im April der spätere Wirtschaftsminister Ludwig Erhard zur Eröffnung der zweiten hannoverschen Exportmesse in der Kuppelhalle.

Öffnung

Die Freitreppe war bis weit in die 50er Jahre für das Publikum mit einer roten Kordel abgesperrt und wurde nur zu besonderen Anlässen geöffnet. Als Zeichen neuen demokratischen Bewusstseins wurde die Treppe schließlich für die alltägliche Benutzung für jedermann freigegeben. Die Kordel fiel. Ihre Schraubösen sind am Fuß des Treppenaufgangs noch heute zu sehen.

Alle fünf Jahre, am Sonntag der Kommunalwahlen, verwandelt sich die Zentralhalle in ein riesiges Rundfunk- und Fernsehstudio. Wird zwei Wochen später eine Stichwahl um den Oberbürgermeisterposten nötig, können die aufbauten der großen Sender gleich stehen bleiben.

Zu den traditionellen Veranstaltungen in der  Kuppelhalle gehört die alljährliche Eröffnung des Schützenfestes mit der feierlichen Einführung der neuen Bruchmeister, die auf der Treppe Aufstellung nehmen: Vier junge Männer in Frack und Zylinder, die gemäß der Überlieferung Junggesellen und unbescholten und für die Ordnung auf dem Festplatz verantwortlich sein sollen. In Wahrheit ist natürlich längst die Polizei zuständig, wenn es zum „Bruch“ von Recht und Ordnung kommt.

Ach ja: Die  hannoverschen Narren holen sich nun auch schon seit etlichen Jahren immer  um den 11. 11. herum in der Kuppelhalle den Stadtschlüssel ab. Mit dem Datum nimmt man es nicht ganz so genau. Es muss ein Sonnabend sein. Man ist hier ja schließlich nicht in Köln.

Die Stadtmodelle

Von besonderem Interesse für Bürger und Touristen sind die vier großen Stadtmodelle, die seit der Bauausstellung Constructa 1952 permanent in der Kuppelhalle ausgestellt sind. Sie zeigen die Stadt

1689, noch im mittelalterlichen Zuschnitt, aber seit der Residenznahme 1636 erweitert um die Calenberger Neustadt westlich der Leine

1939 als Großstadt kurz vor dem zweiten Weltkrieg (längst ist Hannover so gewachsen, das sich das Modell auf die Innenstadt und die City-nahen Gebiete beschränken muss)

Dieses Modell zeigt die Zerstörungen nach dem Zweiten Weltkrieg

1945 im Zustand nach den verheerenden Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg. Die Stadt ist zu 60 Prozent, die Innenstadt fast vollständig zerstört

Heute – im Unterschied zu den anderen Modellen sind alle Gebäude ganz in nüchternem Weiß gehalten. Ein Symbol für den totalen Neuanfang, den Planer und Politiker damals für nötig hielten. dieses Modell wird ständig aktualisiert.

An der Wand rechterhand vom Eingang die Wappen der Partnerstädte Bristol, Perpignan, Rouen, Blantyre, Utrecht (von den Utrecht 1976 einseitig gekündigt), Posen, Horoshima und Leipzig.  


Texte mit freundlicher Genehmigung von Michael Krische.