Gedanken zum Werk von Siegfried Neuenhausen
Pandemische Collagen
Die „Pandemischen Collagen“ sind eine summarische Serie. Sie bringen zentrale Aspekte der Bildwelten von Neuenhausen aus allen Phasen zusammen.
Die „Pandemischen Collagen“ sind eine summarische Serie. Sie bringen zentrale Aspekte der Bildwelten von Neuenhausen aus allen Phasen zusammen: Der Künstler zerschneidet seine eigenen überzähligen, druckgrafischen Blätter und fügt die Fragmente neu zusammen zu einem kritischen Blick auf eine Wirklichkeit, die an vielen Stellen von einem ebenso dynamischen wie bedrohlichen Chaos beherrscht wird. Der Charakter der Serie ist weit entfernt davon eine retrospektiv, ordnende Rückschau zu sein, die auf einen Erkenntnisgewinn durch Zusammenschau abzielt. Vielmehr ist es eine überbordende, explosive Mischung. Es sind kraftvolle Werke, die den eigenen, reichen Bilderkosmos neu und neugierig durcheinanderwirbeln.
Ausgangspunkt der „Pandemischen Collagen“ war eine Sichtung der druckgrafischen Bestände im Winter 2019/2020. Neuenhausen begann anschließend zunächst Arbeiten aus der Serie der „Deutsch-Deutschen Blätter“ zu zerschneiden. Die harten Schwarz-Weiß-Kontraste konnte er trotz seiner schweren und seit einigen Jahren dramatisch fortschreitenden Augenkrankheit gut wahrnehmen. Die Fragmente inspirierten ihn zu experimentellen Bildfindungen. In einem „anarchischen Spiel mit ungewissen Ausgang“ wie er selbst sagt, fand er eine neue Arbeitsweise. Einzige selbst gestellte Vorgabe: Mit den ursprünglichen Arbeiten durften diese neuen Collagen weder inhaltlich noch formal etwas zu tun haben (1). Weitere auch farbige Druckgrafiken folgten, wurden zerschnitten und erweiterten das Repertoire der verfügbaren Materialien. Der Künstler legte ein gut organisiertes Materiallager an. Darin finden sich übersichtlich geordnet, gelbe Rundungen, blaue Streifen, große, kleine und mittlere Köpfe, lockere und dichte Strukturen in verschiedenen Farben und vielerlei mehr Motive und Formen. Diese Köpfe, Brüste, Arme und andere Körperteile, Hüte, leere Mäntel, Landschaften, Spiegeleier, Hotdogs, Flugzeuge, Möbel, Sterne, Stacheldraht und abstrakte Elemente wie Streifen, Muster, Kreissegmente, Flächen, Textfragmente oder Schrift werden in den neuen Arbeiten zu dynamischen Formationen arrangiert, nebeneinanderstellt und überlagert. Alles wird mit allem zusammengebracht. Es kommt dabei zu Verdichtungen, Auflösungen und Vereinzelungen, vielfach finden sich Wirbel-, Kreis- und Strahlenformationen.
Es scheint keine Regeln zu geben und doch ordnen Linien- und Rasterstrukturen das Chaos: Gebilde aus vorhandenen Druckgrafiken und eigens angefertigte parallele Geraden, die Neuenhausen mithilfe einer Sehhilfe mit schwarzem, blauen grünen und rotem Edding zeichnet und wiederum ebenfalls zerschneidet. In vielen Collagen stellen sie so etwas wie ein vermeintlich haltgebendes Kontinuum im Hintergrund her, immer unterbrochen von feinen Fehlern oder deutlichen Versatzmomenten. In anderen Arbeiten werden die Strukturen zum beherrschenden Thema. Das Zerschneiden und neu kombinieren führt zu feinen aber spannungsreichen Störungen, Brüchen und Querschlägern – zu Bildern, in denen das Auge keinen Halt findet, die eine nicht zur Ruhe kommende unruhige Spannung erzeugen.
Die neue Arbeitsweise der Pandemischen Collagen stellt zugleich einen Rückgriff auf das Prinzip der Collage in früheren Arbeiten dar. Die Technik zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk und zeigt sich schon früh etwa in den „Halben Menschen“ der frühen 1970er Jahre, den Collagen und Reliefs (2) oder auch in den für das Werk zentral wichtigen, umfangreichen Künstlerbüchern. In dem insgesamt über 6000 Seiten umfassenden Konvolut ist das Collagieren als freies Spiel mit Zusammenhängen, Elementen und Motiven vorherrschend und bietet dem Künstler die Möglichkeit die „Gleichzeitigkeit des Verschiedenen“ zum Ausdruck zu bringen: „Dabei geht es technisch und stilistisch hoch her in einem bisweilen anarchischen Spiel mit allem möglichen Bildmaterial, das mich irgendwie interessiert oder berührt hat. Zeitungsausschnitte, Bildmüll aus der Werbung übermale ich, mische sie mit eigenen Zeichnungen, Foto- und Textfragmenten zu schönem Unsinn oder überraschendem Sinn. Politisches überlagert Privates oder umgekehrt [...] Ich finde und erfinde, verdrehe Bekanntes, entfalte Unbekanntes und verkupple eigentlich unvereinbare Bild und Textfragmente miteinander“, sagt Neuenhausen über sich und seine Künstlerbücher.(3)
Die dadaistisch anmutende, spielerische Gestaltungslust, die sich hier formuliert, ist der Quell der neuen Serie, die ganz und gar zeitgenössisch wirkt und von einer ungebrochenen Produktivität zeugt. So sind in den vergangenen zwei Jahren bis heute über 200 großformatige und kleinere „Pandemische Collagen“ entstanden, die letztlich auf ein Thema abzielen, das Neuenhausen von jeher beschäftigt hat: Ein kritischer Blick auf eine als unvollkommen wahrgenommene, gesellschaftlich-politische Wirklichkeit. Das Dasein des Menschen in dieser Wirklichkeit ist geprägt von Ausgrenzung, von Leid, innerer Abstumpfung und Isolation. Betrachtet man die Darstellung des Menschen im Werk, so finden sich vielgestaltige Variationen des versehrten, des „beschädigten“ (Neuenhausen) Menschen (4) und daneben die Wiedergänger der „Bürger von B.“ (1967) versteifte, ausdruckslose, „namenlose Serienmenschen“(5), potentielle anonyme Täter. In den „Pandemischen Collagen“ wiederholen sie sich als identische Versionen ihrer selbst in immer neuen Zusammenhängen.
Neuenhausens Interesse am Menschen ist zugleich von einem zutiefst sozialen Engagement motiviert. Seine Arbeit mit Menschen, oft am Rande der Gesellschaft, mit Gefangenen oder mit Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen, mit älteren Menschen, aber auch mit Bürger*innen im eigenen Stadtteil sind Ausdruck dieses Interesses und prägen zugleich das Werk. Die Frage nach der Einflussnahme der Kunst auf das Leben hat in diesem Wirken sicher am deutlichsten seinen Ausdruck gefunden, aber auch die bildnerischen Werke zeugen an vielen Stellen davon in ihrer direkten Bezugnahme auf gesellschaftlich relevante Themen. Die Serie der aktuellen Arbeiten zielt nicht explizit auf bestimmte Fragestellungen ab, wie es frühere Werke tun beispielsweise die erwähnten „Deutsch-Deutschen Blätter“ mit ihrer Thematisierung der Teilung und Wiedervereinigung. Die „Pandemischen Collagen“ zeigen vielmehr eine universellere Sicht, einen vom Besondere auf das Allgemeine abgezogenen Blick auf unser Dasein und die Welt, die sich in den vergangenen zwei Jahren – ausgelöst durch eine Pandemie und durch einen neuen Krieg – gänzlich unvorhersehbar und unberechenbar verändert hat.
Neuenhausen benutzt das Prinzip des Fragments auch als Ausdruck der Unmöglichkeit eines sinnvollen Ganzen. Das Zerschneiden und neu Zusammensetzen ist auch eine Suche nach Ordnung und Sinn, die aber immer vergeblich sein kann und darf: „Ich bin zugleich Spieler und Spielverderber, Spinner, Chronist und in diesem Sinn Kunstmacher.“ Diese auf seine Künstlerbücher bezogenen Zeilen, so sagt Neuenhausen, charakterisieren sein gesamtes künstlerisches Denken und Handeln. Das hier erwähnte spielerische Prinzip ist die Grundlage des Kunstschaffens, denn im zweckfreien Spiel liegt eine große Freiheit und Inspirationskraft. Spielverderber ist Neuenhausen insofern er meist kritisch auf die Wirklichkeit blickt und Dinge zur Anschauung bringt, die stören, die Unruhe verbreiten, Probleme und Fragen aufwerfen. Als Chronist greift er sehr konkrete Probleme wie Krieg, Pandemie oder Folter auf. Ein Spinner ist er in seiner Möglichkeit quer zu liegen, die Dinge auf den Kopf zu stellen, Chaos zu verbreiten, alles mit allem in Verbindung zu bringen und brüchige Ordnungen zu kreieren. Die Serie der „Pandemischen Collagen“ bringt all dies zusammen und in einer Weise zum Ausdruck, die überzeugender nicht sein könnte. Es ist eine rasende und zugleich reflektierende Reise durch ein reichhaltiges Lebenswerk, die alles neu hinterfragt und dafür sorgt, dass nichts zur Ruhe kommt.
Anne Prenzler
(1) Siegfried Neuenhausen, Text zu den Pandemischen Collagen, 2022
(2) Joachim Büchner, ehemaliger Direktor des Sprengel Museum, im Katalog zur Ausstellung Dettelbach Neuenhausen, Kunstverein Langenhagen, 1990, S. 40.
(3) Siegfried Neuenhausen, Bücher, 2022??
(4) Ein eindrucksvolles Zeugnis sind die Befassungen mit Gefolterten wie in der bildhauerischen Arbeit „Denkmal für Joao Borges des Souza“, 1971.
(5) Norbert und Beatrix Nobis, Siegfried Neuenhausen, Braunschweig, 1981, S. 12.