Neue Räume im Sprengel Museum

Abenteuer Abstraktion

Mit „Abenteuer Abstraktion“ zeigt das Sprengel Museum Hannover einen bedeutenden Teil seiner Sammlung in den neu eingerichteten Räumen des Hauses: Malerei, Skulptur, Grafik, Foto und raumgreifende Medienkunstwerke und Filme aus der Anfangszeit des Mediums vereint die Ausstellung.

 

Lyonel Feininger, Ober-Reißen, 1924, Öl auf Leinwand, 50,7 x 77,5 cm, Sprengel Museum Hannover, Kunstbesitz der Landeshauptstadt Hannover

Abenteuer Abstraktion – von der Moderne bis zur Gegenwart

Der Begriff Abstraktion steht für einen Denkprozess, der etwas ins Allgemeine oder Einfachere überführt. Eine solche Konzentration auf das Wesentliche bedeutet Verlust und zugleich Gewinn. Die Beschäftigung mit abstrakten Kunstwerken bedarf einer Offenheit gegenüber ungewohnten Perspektiven, vergleichbar einer Abenteuerreise, die aus dem geschützten Alltagsbereich entfernt.

Wege zur Abstraktion

Der Rundgang präsentiert abstrakte Kunst seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Stilrichtungen wie Kubismus und Expressionismus beginnen, sich vom dargestellten Gegenstand zu entfernen. Die Künstlerinnen und Künstler zerlegen Bildmotive in Grundformen oder erzeugen eine bewegte Gliederung der Bildfläche. Dabei verschwindet die Horizontlinie, die Räumlichkeit vortäuscht. Zudem setzen die Malenden die Farbe unabhängig vom Gegenstand ein. Farbe erhält eine wachsende Bedeutung als Energieträger und Material an sich.

Nach der russischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg entsteht eine Kunst, die keinerlei Gegenstandsbezug mehr besitzt. Diese Abkehr von der Naturnachahmung zählt zu den großen Errungenschaften der Moderne. Die Werke folgen allein ihren ästhetischen Gestaltungsprinzipien. Die Kunstschaffenden beschäftigen sich mit der Anordnung und dem Verhältnis von Formen und Farben. Sie bilden die Wirklichkeit nicht ab, sondern schaffen eigene Wirklichkeiten, eine konkrete Kunst.

 

Hans Arp, Oiseau-Nuage, 1943, Holz, bemalt, 80 x 70 x 9 cm, Sprengel Museum Hannover, Leihgabe Land Niedersachsen

Für die Klassische Moderne stehen neben prominenten Werken von Schwitters und Lissitzky u.a. Arbeiten von Piet Mondrian, Hans Arp und Paul Klee. Aus der Nachkriegszeit stammen Werke u.a. von Willi Baumeister, Pierre Soulages und K.O. Götz. Sie leiten über zu zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern, darunter Pia Fries, Pippilotti Rist und Wolfgang Tillmans. Zu entdecken in den 18 Räumen von „Abenteuer Abstraktion“ sind neben einem grafischen Kabinett auch raumgreifende Medienkunstwerke sowie abstrakte Filme aus der Anfangszeit des Mediums.

Nachbauten

Ausgangs- sowie Mittelpunkt des Rundgangs sind die Nachbauten von El Lissitzkys „Kabinett der Abstrakten“ (1927) und Kurt Schwitters‘ „Merzbau“ (1933). Beide Räume, die ehemals in Hannover existierten, verkörpern einflussreiche Etappen der abstrakten Kunst und ermöglichen ein unmittelbares Erlebnis des Zusammenspiels von Farbe und Form.

Der Merzbau von Kurt Schwitters

Der Merz-Nachbau ist Herzstück der Ausstellung. Das hannoversche Original wurde 1943 im Krieg zerstört. Der Raum, den Besucherinnen und Besucher betreten und in Erinnerung an Kurt Schwitters erleben können, ist ein Nachbau. Er entstand Anfang der 1980er-Jahre in Zürich. 

 

Kurt Schwitters, Merzbau (Nachbau im Sprengel Museum Hannover), 1980–1983, Holz, Gips, Farbe, Fotoreproduktionen, Glas, elektrische Beleuchtung, Sprengel Museum Hannover

Der Merzbau war „aus Prinzip“ nie abgeschlossen. Schwitters folgte keinem Plan beim Gestalten. Der offene Prozess führte zu einer zuvor unbekannten, einzigartigen Ausdrucksform. Dem Künstler war es wichtig, die „suggestive Wirkung“ (Schwitters 1936) des Raums zu erleben. Er stellte sich vor, dass Besucherinnen und Besucher im Merzbau eine Bewegung fühlten, – eine Bewegung, die für ihn beim Durchkreuzen von nicht sichtbaren Linien in der Luft entstand. 

Schwitters wollte ein „Merz-Gesamtweltbild“ verwirklichen. Mit dem Merzbau gelang ihm dies auf umfassende Weise, denn er verband darin viele verschiedene Kunstarten miteinander. Er fügte Bilder, Objekte und Skulpturen zusammen, collagierte und bemalte die verschachtelte Konstruktion. Schwitters nahm vorbehaltlos jegliches vorgefundene Material und setzte es neu zueinander in Beziehung. Damit überwand er die Grenze zwischen „Kunst und Nichtkunst“. Leben und Kunst bildeten für ihn eine Einheit.

Das Kabinett der Abstraktion von El Lissitzky

Das Kabinett ist zugleich Ausstellungsraum und künstlerisches Werk. Als einer der ersten Räume in einem Museum diente es allein der Präsentation zeitgenössischer Kunst. Für Hannover ist es bedeutend, da es die Teilhabe an der Kunst der internationalen Avantgarde in den 1920er-Jahren verkörpert. Das originale Ausstellungsdisplay Lissitzkys bildete den Abschluss des chronologischen Rundgangs, den Alexander Dorner in der Gemäldegalerie des Provincial-Museums konzipierte. Es existierte nur zehn Jahre lang. 1937 wurde es von den Nazis im Zuge der Zerschlagung der Moderne zerstört. Der Nachbau im Sprengel Museum entstand 2016 und ersetzt den ersten Nachbau aus dem Jahr 1968.

Lissitzky stellte das traditionelle Raumkonzept (die Wand als „Ruhebett für Bilder“) infrage und leitete erstmals gezielt die Bewegung und Wahrnehmung der Betrachter im Sinne der Kunst. Da die Wandlamellen von einer Seite weiß, von der anderen schwarz gestrichen sind, changiert der Farbeindruck beim Durchschreiten des Raums. Dadurch tritt die eigene Bewegung ins Bewusstsein. Es können aber auch Irritation und Desorientierung entstehen. Eine solche „optische Dynamik“, schrieb Lissitzky, mache den durch Reizüberflutung in Ausstellungen schon oft ermüdeten Betrachter „aktiv“.

Die Einrichtung des „Kabinetts der Abstrakten“ ist im Zusammenhang mit seinen intensiven Bestrebungen zu sehen, das Museum zu reformieren und damit zur Verbesserung der Bildung breiter Bevölkerungsschichten beizutragen. Lissitzkys zukunftsweisendes Experiment, abstrakte Kunst und deren Präsentation mit einer neuen Raumwahrnehmung zu verbinden, strebte die aktive und bewusste Teilhabe der Besucherinnen und Besucher an. Es bot ihnen die Möglichkeit, sich in gewisser Weise zu emanzipieren.

Kunst in Hannover im Nationalsozialismus

Im Zwischengeschoss des Museums öffnet ein weiterer Bereich, der hannoversche Künstlerinnen, Künstler und deren Kunst während der Jahre 1933 bis 1945 in den Blick nimmt: am Beispiel von neun Personen und entlang historischer Ereignisse beleuchtet die Ausstellung die Situation von Kunst und Kunstschaffenden im Nationalsozialismus und fragt, wie sich die politischen Verhältnisse auf die Institutionen und auf das Leben und Werk der Künstlerinnen und Künstler, Museumsmitarbeiter und Sammler ausgewirkt haben. 

Eröffnung

Die Eröffnung findet am 23. April von 10 bis 18 Uhr begleitet von einem Programm statt. Der Eintritt an diesem Tag ist frei.
Weitere Infos.

Barrierefreiheit

Die Ausstellung „Abenteuer Abstraktion“ gibt es auch zum Hören und Lesen auf dem Smartphone in folgenden Sprachen: Deutsch, Englisch und deutsche Gebärdensprache. Die Ansprechpartnerin für Besucherinnen und Besucher mit Behinderung ist Frau Dörte Wiegand (+49 511 168-3 26 46, doerte.wiegand@hannover-stadt.de)