Restitution (1999)

Gemälde Lovis Corinth "Walchen­see Johannisnacht" (1920 )

Auf Antrag des BKM (Beauftragter des Bundes für Kultur und Medien) und der Commission for Art Recovery of the World Jewish Congress vom 2. März 1999 wurde im Juni 2000 das 1920 entstandene Gemälde "Walchensee Johannisnacht" des Künstlers Lovis Corinth (1858–1925) an die Erbengemeinschaft des jüdisch verfolgten Leipziger Verlegers Gustav Kirstein (1870–1934), vertreten durch die Rechtsanwaltskanzlei Rowland & Associates in New York, restituiert.

Der Rat der Landeshauptstadt Hannover hat am 29. Juni 2000 auf Empfehlung des Verwaltungsausschusses einstimmig für die Rückgabe der Walchensee-Landschaft des Künstlers an die Erben des früheren Eigentümers Gustav Kirstein (1870–1934) gestimmt. (Landeshauptstadt Hannover Info DS  1913/2000)

Das 1920 entstandene Gemälde war 1969 durch Schenkung des Sammlerehepaars Dr. Bernhard und Margrit Sprengel in Eigentum der Landeshauptstadt Hannover gelangt und seit Gründung des Sprengel Museum Hannover 1979 dort öffentlich präsentiert gewesen. Es figurierte unter Angaben der bekannten Provenienz in den musealen Bestandsverzeichnissen und war seit den 1950er Jahren in prominenten Lovis Corinth-Ausstellungen mehrfach als Leihgabe präsent gewesen. Zudem wurde das Werk in dem von Charlotte Berend-Corinth 1958 herausgegebenen Werkverzeichnis des Künstlers mit der entsprechenden Provenienz publiziert (Neuauflage 1992).

Gemälde Lovis Corinth, "Walchensee Johannisnacht" 1920, Öl auf Holz 48 × 58 cm

Das Motiv des Walchensees im Oeuvre von Lovis Corinth und die Erwerbung Gustav Kirsteins

Das Landschaftsbild zählt zu den frühen Varianten des von Lovis Corinths in Urfeld am Walchensee gelegenen und seit 1918 entstandenen Motivs. Der Künstler hatte 1918 die Landschaft am Walchensee in Bayern als künstlerisches Motiv entdeckt und 1919 ein Grundstück in dem an dessen nördlichen Ufer gelegenen Urfeld gekauft, auf dem ihm seine Frau Charlotte Berend nach seinen Plänen ein Haus bauen ließ. Insgesamt sechzehnmal zog er sich zu verschiedenen Jahreszeiten dorthin zurück. Die wechselnden Stimmungen der Natur wurden zum großen Erlebnis seiner letzten Schaffensphase.

Gustav Kirstein erwarb das Landschaftsbild während der Produktionsphase eines 1920 bei E.A. Seemann in Leipzig herausgegebenen Radier-Zyklus des Künstlers. 1920 war die Landschaft mit Titel 'Walchensee-Johannisnacht' in einer Ausstellung der Berliner Sezession unter der Nr. 18 im entsprechenden Ausstellungskatalog erstmals öffentlich gezeigt worden.

Das Verfolgungsschicksal von Gustav Kirstein und seiner Familie

Gustav Kirstein (1870–1934) sammelte nachweislich Werke der um die Berliner Sezession angesiedelten Künstler des deutschen Impressionismus mit denen er anlässlich der Herausgabe von grafischen Editionen zusammenarbeitete. Von 1899 bis 1933 war Kirstein Teilhaber des 1858 durch Ernst Arthur Seemann (1829–1904) gegründeten Verlagshauses, das unter dem Namen Kirstein & Co geführt wurde. Seit dem 6. Januar 1933 führte Kirstein das inzwischen von dem bisherigen Buchverlag 'E.A. Seemann & Co.' getrennt geführte, nun als 'Seemann & Co' bezeichnete Verlagshaus allein.

Infolge des Machtantritts der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 erlebte die Familie von Gustav Kirstein alle Stufen nationalsozialistischer Verfolgung und Enteignung. Der seit 1933 von Gustav Kirstein als Alleininhaber geführte Verlag wurde nach dessen plötzlichen Tod 1934 arisiert, mehrfach umbenannt und durch verschiedene Treuhänder verwaltet.

Die Witwe Clara, gen. Cläre Kirstein, geb. Stein (1885–1939) wurde zwar zunächst ab 1. Juli 1938 noch Alleininhaberin des erneut umbenannten Verlages "Meister der Farbe". Durch die Einführung der nationalsozialistischen Vermögensgesetzgebungen von Mai 1938 erfolgte jedoch die Beschlagnahmung des Verlagshauses wie auch privater Vermögenswerte noch im selben Jahr. 1942 wurde die Firma schließlich enteignet, ohne dass ein Erlös an die Familie Kirstein gegangen wäre. 

Testamentarisch wurde die Witwe Clara Kirstein durch den frühen Tod ihres Ehemannes zur Alleinerbin nicht nur des Verlages, sondern auch des verbliebenen Privatvermögens, zu dem die Kunstsammlung zählte. Clara Kirstein bemühte sich nach dem Tod ihres Ehemannes unter den zunehmenden Repressionen noch um den Verkauf ihrer Kunstsammlung, in der sich auch bedeutende Werke von Max Klinger befunden haben, an das Museum der Bildenden Künste in Leipzig. Zu einem Ankauf kam es zu ihren Lebzeiten nicht mehr. Da ihr kurz vor der geplanten Ausreise in die USA der Pass entzogen und die Deportation nach Theresienstadt angekündigt war, nahm sie sich am 29. Juni 1939 das Leben.

Die Enteignung der Kunstsammlung aus Eigentum der Familie Gustav Kirsteins - Quellen

Die gesamte Kunstsammlung wurde daraufhin durch den Oberfinanzpräsidenten eingezogen und der Stadt Leipzig übertragen. Zur Aufbewahrung wurde sie der in Leipzig ansässigen Kunsthandlung C.G. Boerner zugewiesen, 44 Kunstwerke wurden in Kisten verpackt bei der Speditionsfirma Erhardt Schneider in Leipzig deponiert.

Mit Inkrafttreten der 'Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz' vom 25. November 1941 verfiel Claire Kirsteins gesamtes Vermögen an das Deutsche Reich. Das Museum der Bildenden Künste in Leipzig konnte nun zahlreiche Objekte aus der Sammlung Gustav Kirsteins erwerben (diese Gegenstände wurden seit Verabschiedung der Washingtoner Erklärung von 1998 wieder restituiert). Einen angemessenen Erlös für den enteigneten Kunstbesitz erhielt die Familie Kirstein zu diesem Zeitpunkt infolge der rassischen und Vermögenseinzugsgesetzgebungen nicht mehr.

Aus einer im Auftrag - der bereits in die USA emigrierten beiden Töchter - an das Deutsche Reich gestellten Erbschaftsforderung hat sich eine an die Vermögensverwertungsstelle beim Oberfinanzpräsidenten Berlin Brandenburg – Alt Moabit gerichtete Liste mit Datum vom 30.9.1939 erhalten können. Sie dient heute als maßgebliche Quelle für die enteigneten und heute teilweise noch vermissten Kunstgegenstände aus Eigentum von Gustav und Claire Kirstein.

Diese "Liste der jüdischen und entarteten Kunstwerke aus dem Nachlass von Frau Clare Kirstein" lag dem vom 8. Mai 1942 datierenden Schreiben des Konsulenten und Testamentsvollstreckers Dr. Richard Israel Marcuse bei, der durch die in den USA lebenden Erbinnen beauftragt worden war. Auf dieser durch Dr. R.I. Marcuse erstellten Liste der bei Boerner 1939 eingelagerten Objekte ist das besagte Walchensee-Gemälde, das 1979 durch Bernhard Sprengel in Schenkung in  das Eigentum der Landeshauptstadt Hannover gelangte, als "Walchensee-Landschaft" bezeichnet.

Bernhard Sprengels Sammeltätigkeit – Erwerb von zwei Walchensee-Landschaften Lovis Corinth

Unter dem Eindruck der Verfemung avantgardistischer Kunst durch die Nationalsozialisten beginnt Bernhard Sprengel 1937 mit dem Aufbau einer Sammlung an Werken moderner Kunst. Neben ersten Erwerbungen von Aquarellen Emil Noldes und der deutschen Expressionisten, erwirbt Bernhard Sprengel nach 1945 auch zwei Walchensee-Landschaften des als entartet diffamiert gewesenen Lovis Corinth. In hauseigenen Inventar-Aufzeichnungen notierte die Familie Bernhard Sprengel, das Gemälde 1949 bei Lothar-Günter Buchheim (1918–2007), dem späteren Begründer eines gleichnamigen Museums in Bernried am Starnberger See, erworben zu haben. Jedoch ist bis heute unklar geblieben, aus welchen Quellen der zu jener Zeit in Feldafing lebende Sammler Lothar-Günther Buchheim, Corinths Gemälde Walchensee-Johannisnacht bezogen haben könnte. Buchheim gab im Zuge des 1999 an die Landeshauptstadt Hannover gerichteten Anspruchsersuchens an, "dass er sich weder an das Bild noch an die Transaktion erinnern könnte, sich aber vorstellen könnte, dass das Bild in der "Kunsthandlung Roemer / Berlin" erworben wurde.

Bei dieser Aussage kann es tatsächlich zu Verwechslungen gekommen sein, denn in den nach 1945 innerhalb der Familie Bernhard Sprengel angefertigten Dokumentationsunterlagen kam es zu einer Vermischung von Informationen zu den zwei verschiedenen von Bernhard Sprengel erworbenen Walchensee-Landschaften. Auch der Name des in den Pariser Kunstraub involvierten Kunstagenten Adolf Wüster (1888–1972) war für den Erwerb eines nicht näher bezeichneten Walchenseebildes notiert. So verzeichnete Bernhard Sprengel für seine beiden, nach 1945 erworbenen Walchensee-Landschaften, sie seien 1949 bei Lothar-Günther Buchheim erworben worden. Belegende Dokumente aus Eigentum von Lothar-Günther Buchheim über dessen Verkauf sind indes nach jetziger Kenntnis nicht bekannt.

Das 1937 beschlagnahmte Walchensee-Gemälde aus dem Kestner-Museum Hannover

Es konnte nach Ende des II. Weltkrieg lediglich als gesichert gelten, dass es sich bei der zweiten, durch Bernhard Sprengel 1941 erworbenen Landschaft um jene handelte, die als "Walchensee" ursprünglich aus Eigentum der ehemals so bezeichneten "Städtischen Galerie Hannover", 1925 über das städtische Kestner Museum (heute Museum August Kestner, ehem. Inv.Nr. KM 1925.122) in der Galerie Fritz Gurlitt in Berlin erworben und 1937 durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt worden war. Diese Landschaft war im Titel in nach 1945 entstandenen Dokumenten zunächst nicht näher spezifiziert gewesen. Als 'Walchensee – Abstieg vom Herzogstand' war sie jedoch mit Abbildung in dem 1925 durch die Galerie Wiltschek in Berlin herausgebrachten Ausstellungskatalog (Nr. 8 'Walchensee, Abstieg vom Herzogstand 1920', Einführungstext von Curt Glaser) angeführt und ist dadurch identifizierbar.

Wie in den Akten des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda verzeichnet (Bundesarchiv Berlin), war das gelistete Werk 1940 als international verwertbares Gut im Schloss Schönhausen bei Berlin deponiert und im Tausch an den in Güstrow ansässig gewesenen Kunsthändler Bernhard Böhmer gelangt.

Öffentliche Präsenz der Walchensee-Gemälde Bernhard Sprengels nach 1945

Seine beiden Erwerbungen waren 1950 in der von Hildebrand Gurlitt (1895–1956) für das Wallraf-Richartz-Museum (unter damaliger Leitung von Leopold Reidemeister (1900–1987) in der Kölner Eigelsteintorburg und den Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen in Düsseldorf organisierten Lovis Corinth-Jubiläumsausstellung als 'Am Walchensee' sowie 'Mond über dem Walchensee' präsentiert gewesen. Die über das Landesmuseum Hannover entliehenen Gemälde Bernhard Sprengels sind in den entsprechenden Leihverkehrskorrespondenzen sowie fotografisch dokumentiert. Die fragliche Walchensee-Landschaft des Gustav Kirstein war in der 1950 in Köln gezeigten Ausstellung als 'Mond über dem Walchensee' ausgewiesen. Die Provenienz der Landschaft aus der Sammlung Kirstein schien zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt gewesen zu sein.

Bernhard Sprengel veräußerte die ehemals in Hannover beschlagnahmte, ebenso 1920 entstandene Walchensee-Landschaft, die 1958 durch Charlotte Berend-Corinth schließlich als 'Walchensee mit Lärche' (Wvz. Charlotte-Berend Corinth 1958, Nr. 808) bezeichnet wurde, 1953 über Vermittlung von Roman Ketterer, Inhaber des Stuttgarter Kunstkabinetts, an die Kunsthalle Mannheim, von der es 1954 erworben wurde.

Erst mit Erscheinen von Charlotte Berend-Corinths Werkverzeichnis im Jahr 1958 wurden die zahlreichen von Lovis Corinth seit etwa 1919 entstandenen Varianten des Walchensee-Motivs durch beschreibende Titel näher spezifiziert, so auch die beiden von Bernhard Sprengel vormals erworbenen Gemälde.

Entgegen anders lautender Publikationen lässt sich heute lediglich das Lovis Corinth-Gemälde 'Walchensee Johannisnacht 1920' aus dem ehemaligen und enteigneten Eigentum des Gustav Kirstein in der städtischen Kunstsammlung in Hannover identifizieren. (Vgl. Jasmin Hartmann, Gustav und Clara Kirstein, in: Unsere Werte? – Provenienzforschung im Dialog, Ausst.-Kat. Leopold-Hoesch-Museum Düren & Papiermuseum Düren, hrsg. von Renate Goldmann, Köln 2018, S. 134).

Dementsprechend wurde auch nur ein einzelnes Gemälde aus Eigentum der Landeshauptstadt Hannover an die Erbengemeinschaft nach Gustav Kirchstein restituiert.

Das Gemälde wurde am 18. Oktober 2000 bei Sotheby’s London zur Versteigerung angeboten.

© Dr. Annette Baumann, Provenienzforschung zum Kunstbesitz der Landeshauptstadt Hannover 

Weiterführende Links:

http://www.sothebys.com/en/auctions/ecatalogue/2000/german-and-austrian-art-l00712/lot.216.html

http://www.lostart.de/Content/051_ProvenienzRaubkunst/DE/Sammler/K/Kirstein,%20Gustav%20(Nachlass).html

Die relevanten Aktenbestände befinden sich im Stadtarchiv Leipzig:

http://www.stolpersteine-leipzig.de/index.php?id=27

Datenbank Beschlagnahmeinventar Entartete Kunst:

http://emuseum.campus.fu-berlin.de/eMuseumPlus?service=RedirectService&sp=Scollection&sp=SfieldValue&sp=0&sp=2&sp=3&sp=SdetailList&sp=0&sp=Sdetail&sp=0&sp=F

Ausgewählte Literatur:

  • Thomas Corinth, Lovis Corinth. Eine Dokumentation, Tübingen 1979, S. 269 – 271.
  • Ulrich Krempel, Lovis Corinths Gemälde „Walchensee, Johannisnacht“ von 1920, in: Beiträge öffentlicher Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland zum Umgang mit Kulturgütern aus ehemaligem jüdischen Besitz, hrsg. von der Koordinierungsstelle für Kulturgüterverluste Magdeburg, Bd. 1, Magdeburg 2001, S. 144-150.