Mitgeschnitten
»Antisemitismus und Rassismus«
Trotz des sperrigen Titels „Begriffe auf dem Prüfstand. Über das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus“ traf dieser Vortrag den Nerv der Zeit – gut 60 interessierte Besucher/innen lauschten gespannt, wie der Rassismus-Experte Dr. Mark Terkessidis mehr als eine Stunde lang das komplexe Verhältnis der beiden Phänomene „Rassismus“ und „Antisemitismus“ analysierte.
Audio-Mitschnitt des gesamten Vortrages
Dr. Günter Max Behrendt führte für die Stabsstelle „Integration, Politik und Verbände“ als Veranstalterin kurz in das Thema ein und verdeutlichte, dass dieser Vortrag im Kontext einer ganzen Veranstaltungsreihe stehe, nämlich der „Antirassismus-Wochen 2013“, die die Stadt zusammen mit einem breiten Bündnis weiterer Akteure durchführt. Er stellte auch den Referent Dr. Terkessidis dem Publikum vor, der als der Psychologe und freier Autor nicht nur durch sein viel zitiertes Buch „Die Banalität des Rassismus“, sondern auch durch seine Wirken für die WDR-Welle „Funkhaus Europa“ bekannt geworden ist.
Dr. Terkessidis begann seinen Vortrag mit aktuellen Beispielen wie dem Ermittlungsdesaster zur Nazi-Terrorgruppe NSU und erklärte, dass auch behördliche Routinen – oft unbewusst – von „rassistischem Wissen“ geprägt seien. Mit diesem Begriff ist ein Pool von gesellschaftlich akzeptierten Wissensbeständen gemeint, aus dem sich die Menschen in ihren alltäglichen Deutungen bedienen, indem sie Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft oder ihres Aussehens kollektive Eigenschaften zuschreiben.
Er erklärte auch, dass „rassistisches Wissen“ keineswegs immer abwertend und erniedrigend sein muss. Wenn beispielsweise große Teile der Gesellschaft annehmen, dass afrikanischstämmige Menschen grundsätzlich gut tanzen könnten oder dass alle Deutschen pünktlich und hochgradig diszipliniert wären, greifen sie auf scheinbar positive Stereotype zurück. Vor allem aber ordnen die so Urteilenden ihre Mitmenschen einer gedachten Gruppe zu, der dann „typischen“ Eigenschaften entsprechen. Die Verknüpfungen entstammen dem rassistischen Wissen. Hoch interessant waren auch die Ausführungen, wie die Bildung „rassistischen Wissens“ zur Entstehung wissenschaftlicher Methoden beigetragen habe, so zum Beispiel bei der empirischen Statistik zu beobachten.
Um die Mechanismen des Antisemitismus verständlich zu machen, bot Dr. Terkessidis einen geschichtlichen Abriss. Juden in Europa wurden schon im Spätmittelalter systematisch vom gesamtgesellschaftlichen Zusammenleben ausgeschlossen und zur Konversion gezwungen. Mit dem Übertritt zum christlichen Glauben – so hätte man eigentlich annehmen können – seien sie nunmehr „assimiliert“ gewesen und hätten einen legitimen Platz in der Gesellschaft beanspruchen können. Doch es kam anders: Nunmehr warf man den Konvertierten eine mangelnde Reinheit des (christlichen) Blutes vor. So wurde ihre vermeintliche „Andersartigkeit“ auf Dauer gestellt und die Ausgrenzung eines gewachsenen Teils der Gesellschaft fortgesetzt. In diesem Zusammenhang zitierte der Referent Jean-Paul Sartre, der 1946 schrieb: „Existierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden.“
Die antisemitische Klischees blieben nicht statisch, sie wandelten in verschiedenen historischen Phasen. Als etwa in den 1880er Jahren osteuropäische Juden ins Deutsche Reich einwanderten, sagte man ihnen nach, sie seien schmutzig, roh, unsittlich und sexuell unbeherrscht. Sie unterlagen also den typischen Unwert-Urteilen über „Migranten“. Dem stand das ältere Fantasma vom „schachernden Juden“ und „Wucherer“ diametral gegenüber, in welchem die Juden als übermächtig imaginiert wurden. Hierauf baute die Nazi-Fantasie vom „Weltfinanzjudentum“, eine Projektion, die allen Jüdinnen und Juden unterstellte, sie würden die Gesellschaft unterwandern und insgeheim die Welt regieren. Die abstruse Gleichsetzung von Kommunismus und Judentum potenzierte diese Fantasien ins Unermessliche.
Mit der Gründung Israels als Nationalstaat sei die Perspektive auf die Juden als „vaterlandslose Gesellen“ obsolet geworden. Doch gleichzeitig wechselten die rassistischen Unwerturteile, die im fraglos hingenommenen rassistischen Wissen vormals für Juden reserviert waren, auf „die Araber“ über. Nun seien es die Araber gewesen, die sich mit hohen Geburtenrate vermehrten, um die gegebene Mehrheitsgesellschaft zu zerstören. Dr. Terkessidis zeigte, dass diese Denkmuster nahezu überall auftreten und ordnete etwa die Thesen Thilo Sarrazins über die Geburtenrate türkischstämmiger Einwohner/innen in Deutschlands hier ein.
Trotz seiner ernüchternden Analysen sah Dr. Terkessidis auch große Fortschritte – gerade in den letzten 15 Jahren. Seit Deutschland feststelle, dass es doch ein Einwanderungsland sei, rückten Integration und Gleichstellung auf der politischen Agenda nach oben. Mittlerweile gebe es kommunale Stabsstellen für Integration, staatlich geförderte Projekte wie „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ und es finde viel Aufklärungsarbeit statt. Viele Branchen und Behörden haben sich interkulturell geöffnet. So schloss der Vortrag mit einem optimistischem Blick nach vorn.
In der Aussprache nach dem Vortrag engagierten sich die Zuhörer/innen mit zahlreichen Fragen und berichteten auch über Beispiele aus ihrer eigenen Erfahrung. Als eine anwesende Lehrerin anmerkte, dass ihre Schüler/innen mit Migrationshintergrund nicht wüssten, was ein „Mensch mit Migrationshintergrund“ eigentlich sein solle, sich also durch diese Bezeichnung überhaupt nicht angesprochen fühlten, pflichtete Dr. Terkessidis ihr bei, dass gerade Kinder sich der „Andersartigkeit“, die ihnen von anderen zugeschrieben werde, überhaupt nicht bewusst seien. Andere Zuhörer/innen wollten wissen, wie sie sich in konkreten Situationen, in denen sie mit rassistischen Prämissen konfrontiert werden, verhalten könnten. Wenn man sich dagegen wehre, so komme oft der Vorwurf, man sei zu empfindlich. Dr. Terkessidis riet dazu, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen und sie nicht durch andere disqualifizieren zu lassen
Der Vortrag wurde insgesamt so spannend und mit viel Körpereinsatz präsentiert, dass die Zuhörer/innen den Referenten kaum gehen lassen wollten und er wegen all der Fragen und Anmerkungen beinahe seinen Zug nach Hause verpasste. Man schien ihm gerne zuzuhören.