127. Plenarsitzung des Niedersächsischen Integrationsrates

Was bedeutet queeres Leben für Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte in Niedersachsen?

Im Schatten der jüngsten queerfeindlichen Angriffe während des Christopher Street Day (CSD) in Hannover und kurz nach dem neuen EU-Asylkompromiss begrüßte die Landeshauptstadt den Niedersächsischen Integrationsrat mit dem Thema „Queeres Leben für BIPoCs und Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte“ im Neuen Rathaus.

Inmitten des „Pride Month“ tagte am 10. und 11. Juni der Niedersächsische Integrationsrat (NIR) im Hodlersaal des Neuen Rathauses. Séverine Jean aus dem Vorstand des NIR eröffnete die Fachtagung mit den Worten „Es ist wichtig, dass wir hier zusammenkommen und gemeinsam in den Austausch treten. Insbesondere haben dies die jüngsten Ereignisse während des CSD gezeigt“ und spielte damit auf die queerfeindlichen Angriffe in Hannover an.

 

Ratsherr Lars Kelich spricht ein Grußwort.

Nach der Begrüßung der Delegierten und der Gäste folgte ein Grußwort des Ratsherrn Lars Kelich. Kelich hieß den NIR im Namen der Landeshauptstadt willkommen. Im Zuge seiner Rede stellte der SPD-Fraktionsvorsitzende Kelich auch den „WIR2.0 vor: „Wir sind für diese Aktualisierung des alten „Lokalen Integrationsplans“ hier in Hannover neue Wege gegangen. Wir haben dafür von Anfang an in Gruppen gearbeitet, die paritätisch mit Verwaltungsmitabeiter*innen sowie externen Expert*innen besetzt waren und die zumeist auch zu mindestens 50% von Menschen mit internationaler Geschichte besetzt waren“. Das Thema der Fachtagung werde in der Öffentlichkeit bisher zu wenig besprochen, so Kelich weiter. Die LHH widme sich daher im WIR2.0 ebenfalls Themen rund um das queere Leben von Menschen mit internationaler Geschichte. „Wir alle müssen dafür sorgen, dass die Themen, die der NIR verhandelt, auch in den Stadträten sowie auf Landes- und Bundesebene zur politischen Normalität werden. Dass die Gremien, die unsere Kommunen und dieses Land politisch prägen, erkennen, dass hier keine Randthemen verhandelt werden, sondern dass es um den Kern unserer Gesellschaft und unseres Zusammenlebens geht“, betonte der Ratsherr.

 

Die Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Sprecherin der AG Queerpolitik, Anke Hennig (SPD), bewegte die Teilnehmenden der Fachtagung mit einem Redebeitrag, in dem sie ihr Entsetzen über den kürzlich beschlossenen Asylkompromiss zum Ausdruck brachte. „Faire Asylverfahren sollten Voraussetzungen sein. Wir müssen dafür sorgen, dass Asylverfahren auf Augenhöhe ablaufen“, so die Bundestagsabgeordnete.

 

Der NIR-Vorsitzende Özcan Irkan eröffnet die Plenarsitzung.

Nach den Grußworten eröffnete der Vorsitzende des NIR, Özcan Irkan, die 127. Plenarsitzung. Die Politik habe verstanden, dass die Menschen der LSBTIQ+ Community geschützt werden müssten. Dies sei der erste Schritt, allerdings noch nicht ausreichend, so der Vorsitzende. Özcan Irkan fragte in seiner Rede nach der gesellschaftlichen Toleranz und bemerkte nachdrücklich, dass die Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft erfolge. „Es muss immer zuerst der Mensch sein, der zählt“, so Irkan und erklärte, dass Religionen oftmals die Ausrede für Queerfeindlichkeit seien.

 

In seinem Bericht über den „WIR2.0“ ergänzte Alexander Koop, Leiter des Fachbereiches Gesellschaftliche Teilhabe der LHH, die Ausführungen des SPD-Fraktionsvorsitzenden Lars Kelich. Koop zufolge wurde 2017 die erste deutsche Gemeinschaftsunterkunft für schwule Männer in Hannover errichtet. Außerdem wolle die LHH eine Beratungsstelle für queere Geflüchtete aufbauen – zusätzlich zum Angebot der kommunalen Fachstelle für Migrationsberatung. Mit ihrer Peer-to-Peer-Beratung stehe außerdem die städtische Antidiskriminierungsstelle (ADS) allen Menschen offen, verdeutlichte Koop und ergänzte, dass im Rahmen des WIR2.0–Prozesses eine Antidiskriminierungsstelle errichtet werde, die unabhängig von städtischen Strukturen bestehen solle. „Geflüchtete Menschen möchten nach Hannover kommen, weil wir die notwendigen Strukturen haben“, so der Fachbereichsleiter.

 

Menschenrechtsexperte und Autor Kadir Özdemir ist per Videokonferenz zugeschaltet.

Keynote der Fachtagung war der Beitrag von Kadir Özdemir vom Verein „Prisma Queer Migrants e.V.“. Der macht- und rassismuskritische Verein berate queere Geflüchtete und biete neben der Community-Arbeit auch Empowerment an, denn die Mitglieder seien nicht nur queer, sondern auch von Rassismus betroffen, so Özdemir. Der Experte für Menschenrechtsaspekte erklärte, dass in einigen Ländern die Homosexualität unter Strafe stehe. In acht Ländern würden homosexuelle Menschen sogar mit dem Tode bestraft. Die Menschen fühlten sich in solchen Ländern allein und unsichtbar, da die nötigen (Schutz-)Räume fehlten. Dating und das Leben innerhalb der eigenen Familie könne so zur Gefahr werden. „Selbst die vermeintlich sichersten Länder mit einer demokratischen Grundsatzordnung können für queere Menschen unsicher sein“, sagte Özdemir und spielte damit ebenfalls auf die jüngsten Ereignisse während des CSD in Hannover an. Mit einem US-amerikanischen Beispiel verdeutlichte Özdemir, dass für queere Menschen weltweit Gefahren bestehen. Außerdem machte Özdemir darauf aufmerksam, dass insbesondere für geflüchtete trans Personen die Schwierigkeit bestehe, dass sie nach ihrer Ankunft erst in reine Unterkünfte für Frauen und Männer kämen und sie erst einmal den Mut aufbringen müssten sich zu outen. Der Experte für Intersektionalität kritisierte darüber hinaus, dass einige Beratungsstellen für Geflüchtete die Mehrfachzugehörigkeit bzw. Mehrfachdiskriminierung von queeren BIPoCs nicht anerkennen würden. Özdemir appelliert, dass es Stellen brauche, die Themen rund um Queerness und Suche nach Asyl gemeinsam betrachteten. „Sehr viele Entscheider*innen lehnen Asylanträge trotz Verfolgungsnachweis ab“, erklärte Kadir Özdemir und beschrieb dies als Scheitern seitens der Verwaltung. Allerdings fehlten hierzu die Statistiken, die weiterhelfen könnten, so der Experte für Menschenrechte. Die Bundestagsabgeordnete Anke Hennig (SPD) bestätigte diese Aussage und ergänzte, dass es auch keine Gewaltstatistiken zur Queerfeindlichkeit gebe. Mit der Frage: „Wie divers ist die Diversitätsarbeit?“, schloss Kadir Özdemir seinen Beitrag ab.

 

Anke Henning, Anmar Thamer, Matthias Zyzik und Leon Dietrich sprechen über queeres, migrantisches Leben in Niedersachsen.

Zum Abschluss der Fachtagung folgte eine Podiumsdiskussion mit Anmar Thamer, Matthias R. Zyzik, Anke Hennig und Leon Dietrich. Während dieser Diskussionsrunde betonte Leon Dietrich, Landeskoordinator der Ansprechpersonen für LSBTIQ+ der Polizei Niedersachsen und Beauftragter der Charta der Vielfalt der Polizeidirektion Hannover, dass es wichtig sei, Queerfeindlichkeit zur Anzeige zu bringen. „Täter*innen dürfen damit nicht durchkommen“, verdeutlichte Dietrich. Anmar Thamer erzählte von seiner Arbeit bei der Hannöverschen AIDS-Hilfe (Checkpoint Hannover). In den Beratungen werde deutlich, dass sich der Hass gegen queere Migrant*innen verstärke, so der Projektkoordinator der AIDS-Hilfe. „Ich sehe es tagtäglich auf den Straßen oder in der Bahn. Ich kann nicht mit meinem Freund rausgehen, ohne beleidigt zu werden“, sagte Anmar Thamer und beschrieb seine persönlichen Erfahrungen. Matthias R. Zyzik aus der kommunalen Fachstelle für Migrationsberatung der LHH bestätigte die Aussagen. „Zu uns kommen viele, die Gewalt erfahren haben“. Zyzik betonte nachdrücklich, dass in seinen Beratungen außerdem vermehrt über das Misgendern (Ansprache mit dem falschen Pronomen), Anstarren auf den Straßen oder den Druck seitens der eignen Familien berichtet werde.

 

Zu der Frage, was die Bundesregierung zum Schutz queerer Menschen tue, antwortete die Bundestagsabgeordnete Anke Hennig, dass das Selbstbestimmungsgesetz auf dem Weg sei. Die Bundesregierung habe den Auftrag, das Gesetz so zu formulieren, dass es wirke, weshalb es wichtig sei, der Zivilgesellschaft zuzuhören. „Es braucht Allys!“, appellierte die Bundestagsabgeordnete.

 

Im Rahmen der Podiumsdiskussion wurde die Verteilung von queeren Geflüchteten kritisiert. In Hannover sei man strukturell gut aufgestellt, allerdings seien die ländlichen Regionen es nicht, kritisierte ein Gast. „Wir reden von Menschen und nicht von Kartons“, unterstrich Matthias R. Zyzik und machte ebenfalls auf die Situation aufmerksam, dass queere Geflüchtete aufgrund der Schutzangebote und der bestehenden Community nach Hannover wollten. Allerdings sei die Antragsstellung komplex und laufe nicht immer erfolgreich für die Asylsuchenden. Anke Hennig kritisierte, dass die entsprechenden Behörden nicht ausreichend geschult seien und erwähnte, dass sie von Fällen gehört habe, in denen asylsuchende homosexuelle Paare bei der Verteilung getrennt wurden, nachdem sie gemeinsam die Flucht aus ihrer Heimat geschafft hätten.

 

Der NIR tagt im Neuen Rathaus

Als es um das Thema Gesundheit ging, berichtete Anmar Thamer, dass viele Geflüchtete falsch über Geschlechtskrankheiten wie HIV oder AIDS informiert seien. Außerdem erzählte Thamer, dass die Menschen teilweise Angst hätten, über ihre Geschlechtskrankheiten zu sprechen, sodass sie die Information nicht einmal vor den Ärzt*innen preisgeben würden. Außerdem stelle sich die Gesundheitsversorgung als schwierig dar, weil die Krankenversicherungen zu bürokratisch seien, erklärte Anmar Thamer vom Checkpoint Hannover. Séverine Jean bedauerte, dass die Finanzierung des Projektes der Hannöverschen AIDS-Hilfe e.V. „Yalla sawa“ unsicher sei. Das Projekt, dessen Name übersetzt “Los, machen wir es gemeinsam” bedeutet, ist ein Präventionsprojekt für Geflüchtete aus der LSBTIQ+ Community in Hannover. Das von Thamer koordinierte Projekt bietet Unterstützung und Beratungen für queere Geflüchtete an und ermöglicht Workshops in Unterkünften für Geflüchtete zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sowie zu sexuell übertragbaren Infektionen.

 

Ein weiteres Thema war der Umgang mit queeren Jugendlichen aus migrantischen Familien. Laut Matthias R. Zyzik stellen Jugendliche die Beratungen vor eine große Herausforderung, da sich einige innerhalb ihrer Familien nicht wohlfühlen.  „Bitte nehmt die Probleme der Jugendlichen ernst!“, appellierte Anmar Thamer. 

 

Zu Abschluss formulierten die Teilnehmenden der Podiumsdiskussion ein paar Sätze an queere Menschen, die sich nicht trauen, ihre Sexualität und Liebe frei auszuleben:

 

 „Habt keine Angst. Es sind viele da, die Euch unterstützen. Ihr seid nicht allein!“ (Leon Dietrich)

 

„Wir sind da, aber nimm Dir die Zeit, die Du brauchst!“ (Matthias R. Zyzik)

 

„Du bist gut, so wie du bist!“ (Anmar Thamer)

 

„Deutschland ist nicht so schlimm, wie man denkt, wenn man als queere Person herkommt. Wir sind viele und wir sind sehr vielfältig. Habt keine Angst, lebt und liebt, wie Ihr wollt. Holt Euch Unterstützung, wir sind da, falls Ihr uns braucht“ (Anke Hennig).

 


Ein Videobericht über die Fachtagung findet sich auf welt-in-hannover.de.