Wissenschaftler der Tierärztlichen Hochschule haben im Mittelmeer eine neue Tierart aus dem Stamm der Plattentiere entdeckt.
Wissenschaftler aus dem Institut für Tierökologie der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) entdeckten im Mittelmeer an der Grenze zwischen Italien und Frankreich eine neue Tierart: Polyplacotoma mediterranea. Die Tiere besitzen einen vielverzweigten Körper und können etwa einen Zentimeter lang werden. Sie gehören zum Stamm der Plattentiere. Das sind strukturell sehr einfach aufgebaute vielzellige Tiere, von denen bislang nur zwei Gattungen mit je einer Art bekannt waren. Forscher aus dem Team von Professor Dr. Bernd Schierwater, der das Institut für Tierökologie der TiHo leitet, untersuchten die neue Tierart. Sie stellten fest, dass sich Polyplacotoma mediterranea in seiner Gestalt und seinem Erbgut deutlich von den beiden bekannten Plattentierarten unterscheidet und ordneten das Tier daher der neuen Gattung Polyplacotoma zu. Ihre Erkenntnisse veröffentlichten sie heute im Fachmagazin Current Biology.
Plattentiere
Plattentiere sind vielzellige Tiere, die weder einen Kopf noch einen Rumpf oder einen Schwanz besitzen. Symmetrisch aufgebaut sind sie ebenfalls nicht. Ihr Lebensraum erstreckt sich von der Südküste Australiens bis hinauf zur Atlantikküste Frankreichs. Plattentiere sind nur wenige Millimeter groß und ernähren sich von Biofilmen, die sie von harten Unterlagen wie Muschelschalen, Steinen oder Korallen ablösen. Da sie keine Organe, keine Muskelzellen und kein Nervensystem ausbilden, obwohl sie entsprechende Erbanlagen besitzen, sind sie interessante Forschungsobjekte für verschiedene biologische Fragestellungen.
Tier, Pflanze oder Pilz?
Erste Hinweise, zu welcher Gruppe von Lebewesen Polyplacotoma mediterranea gehört, erkannten die Wissenschaftler unter dem Lichtmikroskop. "Die einzelnen Verästelungen erinnern an ein Pilzgeflecht, bewegen sich jedoch wie bei einem Tier", berichtet Schierwater. Um festzustellen, wo das Lebewesen systematisch einzuordnen ist, analysierte das Forscher-Team seine mitochondriale DNA. Mitochondrien sind die energieproduzierenden Strukturen einer Zelle und besitzen ihr eigenes Erbgut. Anhand dieses Erbgutes lässt sich die Abstammung eines Lebewesens gut untersuchen. Das Ergebnis: Polyplacotoma mediterranea ist ein Plattentier (Placozoon).
Vielgestaltig statt rund
Trichoplax adhaerens und Hoilungia hongkongensis – so heißen die beiden anderen Plattentierarten – besitzen eine klare Polarität. "Das heißt, ihr kompakter scheibenförmiger Körper kann in ein Oben und ein Unten eingeteilt werden", erklärt Schierwater. Die neue Art besitzt hingegen keine kompakte Scheibenform und ist stark verzweigt. "Wir sammelten das Lebewesen in einer Zone mit ungewöhnlich starker Brandung. Es scheint sich an diese Umgebung angepasst zu haben, indem es seinen Körper in lange Verzweigungen auszieht. Diese verankern sich in kleinen Hohlräumen und Ritzen des Gesteins und geben dem Tier Halt", vermutet Schierwater.
Verwandtschaftsbeziehungen
Auch genetisch unterscheidet sich Polyplacotoma mediterranea von den bekannten Plattentierarten. "Wir konnten unter anderem feststellen, dass das Erbgut in den Mitochondrien seiner Zellen nur halb so groß ist wie das anderer Plattentiere", berichtet Hans-Jürgen Osigus, Doktorand in Schierwaters Arbeitsgruppe und Erstautor der Studie. "Zudem zeigt es Merkmale eines sehr ursprünglichen Erbgutes." Aufgrund dieser Unterschiede schufen die Wissenschaftler für die neue Tierart die neue Gattung Polyplacotoma. Darüber hinaus sehen Schierwater und Osigus die Chance, mithilfe der neuen Tierart mehr über die frühe Evolution der Vielzeller zu erfahren.
Neue Rätsel
Die Entdeckung der TiHo-Forscher wirft wichtige neue Fragen auf. "Wir wissen beispielsweise noch nichts über den Lebenszyklus des Tieres oder wie es sich ernährt", erläutert Osigus. Normalerweise nehmen Plattentiere Nahrung auf, indem sie eine große temporäre Verdauungshöhle zwischen Körperscheibe und Untergrund ausbilden. Aufgrund seiner verzweigten Körperform ist dies für Polyplacotoma mediterranea nicht ohne Weiteres möglich. Darüber hinaus ist es schwierig, das Tier im Labor zu untersuchen: "Es ist sehr fragil, nimmt die übliche Nahrung nicht auf und vermehrt sich bei uns nur sehr langsam – selbst, wenn wir versuchen, die Kulturbedingungen so natürlich wie möglich zu gestalten", berichtet Osigus.